: Nikolajewstraße, Zelle 8
DOPPELT VERFOLGT Stalins Geheimdienst erschoss den Vater, die Nazis steckten den Sohn ins KZ. Nach 1945 kam er in sowjetische Lager
■ wurde 1924 in Schitomir in der Ukraine geboren. Der sowjetische Geheimdienst NKWD erschoss seinen Vater1938. Die Gestapo verhaftete Brschesizkij im Dezember 1942. Im Februar 1943 kam er ins KZ Majdanek, von April 1944 bis Mai 1945 ins KZ Leitmeritz. 1946 verurteilte ihn ein sowjetisches Gericht zu 10 Jahren Lagerhaft. Er floh, stellte sich dann 1950 den Behörden. 1955 wurde er aus sibirischer Haft entlassen. Kontakt zu Franz Brschesizkij: Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, www.stiftung-evz.de
AUS SCHITOMIR BERNHARD CLASEN
Franz Karlewitsch Brschesizkij ist im ukrainischen Schitomir geboren. Hier lebt er heute. Hier hatte er als Junge die polnische Schule besucht, in dieser Stadt wurde 1938 sein Vater erschossen und hier möchte er auch sterben.
Brschesizkij hat keine abgeschlossene Schulbildung, keinen erlernten Beruf und keine Zeugnisse. „Doch ich habe zwei Lebensakademien hinter mir“, sagt der 91-Jährige. „Das Konzentrationslager in Majdanek und den Gulag in Sibirien.“
Seine Mutter, eine überzeugte Katholikin, sei Stalins Geheimdienst NKWD lange ein Dorn im Auge gewesen, erinnert er sich. „Immer wieder hat sie sich bei Parteiveranstaltungen zu Wort gemeldet, die Kommunisten als Lügner bezeichnet und die Anwesenden aufgefordert, der Kirche treu zu bleiben.“ 1933 tauchten Beamte des Geheimdienstes NKWD bei der Familie auf und führten eine Hausdurchsuchung durch. Dabei entdeckten sie ein Glas Saatgut. Wenig später wurde die Mutter als „Spekulantin“ zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. 1937 wurde sie vorzeitig aus der Lagerhaft entlassen – doch schon bald bahnte sich neues Unheil an:„Jeden Morgen hörte ich das Weinen von Kindern, deren Eltern von der Geheimpolizei abgeholt worden waren. Am 4. November 1938 wurde mein Vater vom NKWD abgeholt und zwei Monate später in Schitomir zusammen mit 154 weiteren Polen der Stadt hingerichtet. Man hatte sie beschuldigt, eine Geheimarmee gegen die Regierung aufgebaut zu haben.“
Versteckt in der Hundehütte
Brschesizkij wollte nicht wie die anderen Söhne und Töchter hingerichteter „Volksfeinde“ in ein Kinderlager gebracht werden. Er versteckte sich, lebte zeitweise sogar mit seinem Hund in einer Hundehütte. Flüchtlinge aus Polen, die er in dieser Zeit kennengelernt hatte, trauten dem Frieden zwischen Deutschland und der Sowjetunion nicht. Die Deutschen, so fürchteten sie, würden in Polen nicht haltmachen, sondern in die Sowjetunion weitermarschieren.
Kurz bevor Brschesizkij seinen Plan wahrmachen konnte, nach Polen zu gehen und dort mit der Waffe in der Hand gegen die deutschen Besatzer zu kämpfen, marschierten die Deutschen am 9. Juli 1941 in Schitormir ein.
Im Dezember 1942 verhaftete ihn die Gestapo. „Mein Hund wollte mich an diesem Morgen nicht gehen lassen. Er hat geheult, ich habe ihn gestreichelt, wir haben uns geküsst, wollten uns nicht trennen“, erzählt er. „Er muss es geahnt haben. Es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.“.
Bis zum 10. Januar 1943 saß Brschesizkij in der Zelle Nr. 8 im Gestapo-Gebäude von Schitomir in der Nikolajewstraße. Dann brachten sie ihn – zusammen mit 1.240 weiteren Bewohnern Schitomirs – in das Konzentrationslager Majdanek. „Nur sieben Personen dieses Transports überlebten das KZ.“
In Majdanek am 13. Februar 1943 angekommen, mussten sie vor dem Waschsaal zum Appell antreten. Ein SS-Unterscharführer erklärte ihnen in akzentfreiem Russisch: „Vergesst die Tore, durch die ihr gekommen seid. Ihr werdet das Lager hier nur durch die Tore vor euren Augen verlassen“. „Aber vor unseren Augen waren keine Tore“, sagt Brschesizkij. „Da waren nur zwei Schornsteine des Waschgebäudes zu sehen.“ Wenige Wochen später begriff er den schrecklichen Sinn der Worte des SS-Mannes. „Uns war auf dem Weg zur Arbeit eine Gruppe halbnackter Gefangener, unter ihnen auch Kinder, begegnet, die zum Waschgebäude geführt wurden. Wenige Stunden später sah ich sie wieder: ein Traktor fuhr die Toten, die in einem Anhänger aufeinandergeschichtet lagen, zum Krematorium.“
Im KZ in Majdanek war Brschesizkij die meiste Zeit mit der Entsorgung der Fäkalien betraut. Deswegen habe er relativ ungestört der Arbeit nachgehen können. „Niemand wollte gerne in meiner Nähe sein.“
Im April 1944 brachte man ihn und 1.500 weitere Häftlinge, die noch in relativ guter Verfassung waren, vom KZ Majdanek in das Konzentrationslager Leitmeritz in Tschechien, wo sie in einem Rüstungsbetrieb arbeiteten.
Anfang Mai 1945 machten sich die Wachen der Konzentrationslagers Leitmeritz aus Angst vor den heranrückenden alliierten Truppen aus dem Staub. „Darauf verließen wir KZ-Häftlinge alle das Lager.“ Die nächsten Tage seien sie zuerst von der tschechischen Bevölkerung und später von den sowjetischen Truppen versorgt worden, sagt Brschesizkij. Doch seine Hoffnung auf ein besseres Leben sollten jäh enden: Bei den sowjetischen Truppen verurteilte man ihn zu einer zweiwöchigen Arreststrafe, weil er sich mit dem Politoffizier angelegt hatte. Nun begann sich der militärische Geheimdienst, die „Gegenspionage“, für den polnischen Ukrainer zu interessieren. Dort fand man schnell heraus, dass Brschesizkijs Vater als „Volksfeind“ erschossen worden war. Erschwerend hinzu kam ein Akteneintrag, dass er deutschen Kindern zu essen gegeben hatte.
1946 verurteilte ein sowjetisches Gericht Brschesizkij wegen angeblicher Zusammenarbeit mit dem Feind und Landesverrates zu zehn Jahren Lagerhaft. Doch ihm gelang die Flucht, 1950 stellte er sich dann den Behörden – und landete ein zweites Mal in Zelle 8 in der Nikolajewstraße. Dort hatte sich der NKWD inzwischen in den ehemaligen Gestapo-Räumlichkeiten niedergelassen. Anschließend ging es in ein Arbeitslager in der Nähe des sibirischen Omsk, wo Brschesizkij im Bergbau arbeitete. 1955, zwei Jahre nach Stalins Tod, wurde Brschesizkij vorzeitig aus seiner sibirischen Haft entlassen.
Der alte Mann hegt keinen Hass gegen die Deutschen. „Ich habe SS-Leute erlebt, die fürchteten weder Gott noch den Teufel. Für die gab es nur einen Herrn: Adolf Hitler“, sagt er. „Solche Männer haben Gefangene totgeschlagen. Aber ich habe auch aufrichtige Deutsche kennengelernt.“
Ich bin doch nicht verrückt
Einer von ihnen war Herbert Schulz, der als Dieb im Lager saß. „Ich bin doch nicht verrückt“, habe ihm Herbert Schulz einmal gesagt, „und ziehe in den Krieg.“ Schulz hatte sich kurz nach Kriegsbeginn überlegt, dass er als verurteilter Dieb im KZ die größten Überlebenschancen habe. Und so habe er angefangen zu stehlen, in der Hoffnung nicht an die Front, sondern als Krimineller ins Lager geschickt zu werden.“
Rückblickend glaubt Brschesizkij, dass ihm vor allem sein Glaube und seine Freundschaften geholfen hatten. „Ich bin häufig in meinem Leben betrogen und verpfiffen worden“, erinnert sich der Katholik. Eine von denen, die ihn verrieten, war die Nachbarin Katja. Das war 1948, als Brschesizkij das Versteck verlassen hatte, „weil ich unbedingt meine Mutter sehen wollte“. Kaum war er zu Hause, kam Katja durch die Tür. „Sie hat mich zärtlich mit ‚Frantischek‘ angesprochen, mich eingeladen, sie zu besuchen. Doch irgendetwas in ihren Augen warnte mich.“
Als sie ging, schaute er ihr durch das Fenster nach. Sie marschierte nicht nach Hause, sondern zur Feuerwehr. Damals konnte man nur dort telefonieren. „Ich bin sofort durch das Fenster geflohen.“ Kurz darauf sah er aus der Ferne, wie Wagen des NKWD das Haus umzingelten. „Doch meine Freundschaften wiegen die Enttäuschungen auf, die ich durch mehrfachen Verrat erfahren habe.“ Seinen jüngeren Zeitgenossen rät Brschesizkij deshalb, Freundschaften immer zu pflegen: „Nichts ist wichtiger im Leben als Freunde, auf die man sich verlassen kann.“