Alle haben sie um diesen Vater beneidet

DOKUMENTARFILM In „Nirgendland“ erzählt die junge Filmemacherin Helen Simon von fortgesetzter sexueller Gewalt in einer Familie

Die Bilder in Helen Simons Dokumentarfilm „Nirgendland“ zeigen oft eine geordnete, heile, wohlsituierte Welt. Wohlstandsvillen im süddeutschen Raum. Alles schaut sehr adrett aus, auf eine Art, die einen ein bisschen gruseln lässt.

Die schreckliche Geschichte, von der Simons Abschlussfilm für die Münchner Filmhochschule handelt, wird zunächst in engen Räumen erzählt. Die Kamera schaut auf den Boden, in Zimmerecken, während Gerichtsprotokolle verlesen werden. „Es begann damit, dass ich immer nackt rumlaufen sollte. Dann wurde ich nachts davon wach, dass er in meinem Zimmer stand und mich fotografiert hat. Mein Nachthemd war hochgezogen“. Mit 13 musste sie ihrem Vater beim Onanieren zuschauen. Später zwang er sie zum Oralsex. Wenn sie weinte, sagte er, es sei doch gar nichts passiert, gibt Tina, eine 57 Jahre alte, resolut wirkende Frau, zu Protokoll.

Viele Jahre verdrängte sie den Missbrauch. Sie heiratet, bekommt eine Tochter, Sabine, genannt Flo, die Ehe wird nach kurzer Zeit wieder geschieden. Weil sie arbeiten muss, gibt sie ihre Tochter zu den Eltern.

Flo ist schwierig. Als Teenager wird sie Punk. Mit 14 heroinabhängig. Sie geht auf den Strich, wird mehrmals vergewaltigt, zerschneidet ihren Körper. Ihre Mutter bringt sie in die Klinik. Schließlich erzählt Flo ihrer Therapeutin, dass sie von ihrem Großvater missbraucht wurde.

„Der Missbrauch begann, als ich fünf Jahre alt war. Ich weiß das so genau, weil ich in die Schule kam. Bei den Hausaufgaben saß ich auf seinem Schoß und er begann, sich an mir zu reiben“, sagt sie später vor Gericht.

Als Tina, die Mutter, davon erfährt, erinnert auch sie sich an das, was sie erlitten und jahrelang verdrängt hatte, dass sie sich ihre Familie immer schöngeredet hat; erinnert sich an Szenen, die sie hätten aufmerken lassen müssen, begreift, dass sie schuldlos große Schuld auf sich geladen hat. Erst als ihr Bruder darauf beharrt, seine dreijährige Tochter zum Übernachten zum Großvater zu bringen, entschließen sich Mutter und Tochter zur Klage.

Der streitet alles ab, muss für ein halbes Jahr in Untersuchungshaft, wird aber schließlich freigesprochen. Es sei „nicht nachvollziehbar“, dass die Zeugin keinen Widerstand geleistet habe, somit „nicht bewiesen“, dass die sexuellen Handlungen nicht „einvernehmlich“ stattgefunden hätten. Zudem sei nicht klar, ob einige Schilderungen der Zeugin nicht eher „aus ihrer Erfahrung als Prostituierter herrührten“.

Flo nimmt sich nach dem Urteil das Leben.

Was geschehen ist, ist kaum zu ertragen. Der Missbrauch zieht sich über drei Generationen. Denn auch die Großmutter wurde am Ende des Kriegs von russischen Soldaten vergewaltigt. Als Zuschauer ist man fassungslos; es ist schwer zu begreifen, wie Tina den Missbrauch so lange verdrängte, es schockiert, wenn sie sagt: „Ich habe von meinem Vater mit so einem Stolz erzählt, dass mich alle um diesen Vater beneidet haben“, wenn Flo sagt, sie habe ihrer Mutter nichts erzählt, weil das die Familie zerstört hätte.

Man bewundert Tina dafür, dass sie sich für den Film zur Verfügung gestellt hat, auch wenn viele Fragen – vielleicht notwendigerweise – offen bleiben.

DETLEF KUHLBRODT

■ „Nirgendland“. Regie: Helen Simon. Dokumentarfilm, Deutschland 2014, 72 Min., Berlin-Premiere am 1. Mai um 16.30 Uhr im Moviemento. Weitere Termin finden sich unter www.basisfilm.de/basis_neu/seite4.php?id=363&inhalt=termine