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Archiv-Artikel

Die roten Korsaren

BÜRGERSCHAFTSWAHL Unverzagt im Kampf gegen die Fünf-Prozent-Hürde: die „Sonstigen“. Welche Asse die Kleinparteien im Ärmel haben, verrät die taz.bremen-Programmvorschau. Teil 2: Die Piraten

Am Bremer Programm kann es nun wirklich nicht liegen – das sich hartnäckig haltende Nerd-Image der Piratenpartei. Zur Bürgerschaftswahl treten die Piraten nämlich zuvorderst mit der sozialen Frage an und geben sich systemkritisch. So sollen Kinder, Behinderte, Flüchtlinge und BewohnerInnen von Altenheimen nicht nur schneller ins Internet, sondern: „Es ist ihnen nicht zuzumuten, für einen Auswuchs neoliberaler Ideologie zurückzustehen.“

Die Piraten beschäftigen sich also längst nicht nur mit Netzthemen. Aber warum sollten sie auch, wo doch heutzutage selbst die CDU für freies WLAN eintritt? Nun fordern sie also kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und Vermögensabgaben statt Schuldenbremse.

Der Blick auf die sozial Benachteiligten mag sich auch aus dem Piraten-Personal erklären: Auf ihrer Liste stehen neben den unvermeidlichen Informatikern auch Alten- und Krankenpfleger – ausschließlich Männer übrigens, die unter Piratenflagge ins Länderparlament einziehen wollen. Aber mit den Frauen tut sich die junge Partei ja seit jeher schwer, wie zahllose Mailinglisten, Tweets und Wikis der diversen Splittergruppen dokumentieren.

Ins Wahlprogramm haben Frauen dann zumindest über die Sprachregelung Eingang gefunden – wenn etwa „Lobbyisten und Lobbyistinnen“ der Kampf angesagt wird. Inhaltlich aber ist Gleichberechtigung kein Thema. In der digitalen Gesellschaft sind schließlich alle gleich – egal ob Frau oder Mann. Schwer haben es hingegen Menschen, so wissen die Piraten, „die sich keinem der beiden klassischen Geschlechterbilder zugehörig fühlen“. Darum sollen mehr Unisextoiletten eingerichtet werden.

Die im Grunde größte Sensation bleibt aber, dass dieses Programm überhaupt geschrieben wurde. Noch auf dem Parteitag im September hatte sich der Landesverband im Machtkampf mit dem Bundesvorstand beinahe zerlegt und mit Hausverboten, Bedrohungen und Parteiaustritten geglänzt. Nun aber steht ein buntes Sammelsurium an Themen, das in der Summe den Abschied von Klientelpartei dokumentiert – sogar mit Öko-Einschlag.

Weniger überraschend ist die Detailfreude in Sachen Hochschulpolitik, wo neben „Open-Source-Programmen“ und „Open-Access-Forschung“ auch Chancengleichheit und Familienfreundlichkeit herrschen sollen. Auch bemerkenswert, zumal nicht frei von Eigennutz, ist die geforderte Abschaffung der Fünf-Prozent-Hürde.

Der aus Bremer Sicht gravierendste Vorstoß findet sich gut versteckt im Abschnitt „Bürgerbeteiligung“ der Bremerhavener Piraten: „Ergebnisoffen diskutieren“ wollen sie die Ländereinheit ihrer Stadt mit Bremen. Vor allem wollen sie ihren Überseehafen zurück. Ein Bürgerentscheid soll ihn wieder der Bremerhavener Verwaltung zuschlagen und damit, so der Kampagnentitel, ein „Ende der Kolonialzeit“ herbeiführen. Bis Sonntagnachmittag haben bereits vier der notwendigen 1.500 UnterstützerInnen die Online-Petition unterzeichnet.  JAN-PAUL KOOPMANN