Das Versprechen
ZUKUNFT Jeder kann es nach oben schaffen. Wenn er sich bildet. Das war der Leitsatz – jahrelang. Heute studieren mehr denn je. Aber wie viele Akademiker brauchen wir?
VON ANNA LEHMANN
(TEXT) UND LIA DARJES (FOTOS)
Sie ist die Erste aus ihrer Familie, die Abitur hat. Sie wäre die Erste gewesen, die ein Studium abschließt.
Er ist der Erste aus seiner Familie, der Abitur hat. Er könnte der Erste sein, der Professor wird.
Anja Suchert und Cihan Ayaz haben keine Eltern, die studiert haben. Sie sind, was Politiker „Bildungsaufsteiger“ nennen. Abi, Studienbeginn – all das haben sie aus eigener Kraft geschafft. Doch dann: Sie bricht ab. Er nicht. Ist das Ideal vom Aufstieg durch Bildung wirklich noch intakt?
Anja Suchert, 23, hat die rötlich-blonden Haare zum Pferdeschwanz gerafft, sie trägt eine Latzhose aus festem grauen Stoff mit geräumigen Taschen – für Schlüssel und Zigaretten – und sitzt auf einem Stahlrohrstuhl im Siemens-Ausbildungszentrums in Berlin. Die Siemens-Familie ließ den roten Backsteinbau in der Weimarer Republik als erstes Industriehochhaus in Europa bauen. Anja Suchert erzählt im fünften Flur von Aufbruch und Aufstieg, von Enttäuschung und Neuanfang. Nicht vom Scheitern. Das ist ihr wichtig.
Im Sommer 2011 beendet sie die gymnasiale Oberstufe einer Gesamtschule in Berlin-Neukölln. Die Noten: mäßig, aber sie hat die Hochschulreife. Der nächste Schritt scheint logisch. Das Studium. „Wo ich schon mal Abi hatte, wollte ich das einfach probieren“, sagt Suchert. So ließe sich später leichter ein Job finden und mehr Geld verdienen. Ihre Mutter, Friseurin von Beruf, lebt seit 25 Jahren von staatlicher Unterstützung. Die Tochter soll was aus ihrem Leben machen.
Ein akademischer Titel als Versicherung gegen Arbeitslosigkeit oder Schufterei im Niedriglohnsektor – eine halbe Million Schulabgänger glaubt daran. So viele junge Leute immatrikulierten sich im vorigen Studienjahr an den deutschen Hochschulen. Fast doppelt so viele wie zu Beginn der 90er Jahre – und so viele wie nie zuvor.
Doch es gibt einen, der glaubt nicht an das große Versprechen der Akademisierung: Julian Nida-Rümelin, Philosophieprofessor in München und Staatsminister a. D. Er hat seine Argumente in einem schmalen Buch mit krawalligem Titel aufgeschrieben: „Der Akademisierungswahn“.
Schlank und braungebrannt steht Nida-Rümelin im Festsaal der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Berliner Gendarmenmarkt. „Wir befinden uns auf einem gefährlichen Weg“, hebt er zwischen den Säulen unter der hohen Decke an, „die Zahl der Hochschulzugangsberechtigungen ist dramatisch gewachsen.“
Jahrzehntelang herrschten stabile Verhältnisse in Deutschland: Die Mehrheit erlernt einen Beruf, eine Minderheit hat einen akademischen Abschluss, aktuell knapp 27 Prozent der jungen Deutschen. In Großbritannien sind es 40 Prozent. Nur: In Großbritannien ist dafür auch die Jugendarbeitslosigkeit viel höher. Julian Nida-Rümelin blendet per Fernbedienung Statistiken ein, die aneinandergelegt seine These stützen: Das deutsche Erfolgsmodell ist nicht das Studium, sondern die duale Ausbildung. Theorie in der Berufsschule, Praxis im Betrieb. Sie sichert Deutschlands Wohlstand und dem Einzelnen ein Leben in der Mitte der Gesellschaft. „Andere Staaten beneiden Deutschland darum“, sagt Nida-Rümelin.
Über 330 Berufe kann man auf diesem Weg in Deutschland erlernen. Doch dieses Vorzeigemodell sei in Gefahr, warnt der Professor. Weil sich keiner mehr die Hände schmutzig machen möchte. Weil alle studieren wollen.
Einige Akademiemitglieder nicken mit ergrauten Köpfen. Auch außerhalb der Wissenschaftswelt erregen Nida-Rümelins Thesen Aufsehen. Genug, um auch Bundesbildungsministerin Johanna Wanka in die Akademie zu locken. Sie hält die Gegenrede.
Wanka tritt ans Rednerpult, im hellen Kostüm, wie üblich spricht sie frei. Deutschland als Hightech-Nation tue das Richtige, wenn es seit nunmehr acht Jahren mit über 10 Milliarden Euro neue Studienplätze schaffe. „Wir hatten die geburtenstarken Jahrgänge, die sollten die gleichen Chancen auf einen Studienplatz haben wie die Jahrgänge vor ihnen. Das ist doch legitim“, sagt sie und blickt ins Publikum, als suche sie nach Bestätigung.
Es ist paradox. Eine Frau mit CDU-Parteibuch verteidigt die Öffnung der Hochschulen gegen die Befürchtungen eines Mannes, der bis vor zwei Jahren Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission war.
Dabei ist die SPD die Aufsteigerpartei. Bei den Kommunisten gaben einst Intellektuelle mit geschliffenen Reden den Ton an, die Sozialdemokraten hingegen wurden von Männern geführt, die sich nach Schichtende über die Arbeiterbildungsvereine und auf dem zweiten Bildungsweg in die bürgerlichen Kreise kämpften. Der Parteigründer – von Beruf Drechsler. Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler – das uneheliche Kind einer Verkäuferin. Einer seiner Nachfolger von der SPD – das Kind einer alleinerziehenden Putzfrau. Ihre Biografien stehen für dieses Versprechen: Jedes Arbeiterkind kann es nach oben schaffen. Wenn es sich bildet.
Studieren zu viele, die nicht geeignet sind?
Die Sozialdemokraten pflanzten das Versprechen in die Köpfe ihrer Kinder und Enkel. Sie infizierten die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft damit.
Wo die SPD regierte, erblühten Gesamtschulen, neue Hörsäle wurden auf grünen Wiesen erbaut. „Wir brauchen mehr Akademiker“, hieß es jahrelang, und 2008 setzte die erste CDU-Kanzlerin tatsächlich eine Zielmarke: 40 Prozent eines Jahrgangs sollen einmal studieren. Im Jahr 2015 können Schulabgänger unter 9.800 Studiengängen wählen, fast jeder Zweite schreibt sich an einer Hochschule ein.
Ziel übererfüllt!
Doch die Party bleibt aus.
Denn wenn immer mehr studieren, wer backt dann noch die Brötchen? Wer schraubt die Autos zusammen, wer eröffnet uns das Sparkonto? Wie viele Akademiker braucht unsere Gesellschaft wirklich?
Keinesfalls so viele wie in Großbritannien, sagt Nida-Rümelin und furcht die Stirn.
Nida-Rümelin macht sich nicht nur Sorgen um deutsche Betriebe, sondern auch um die eigene Wirkungsstätte: die Universität. Er sagt: „Es studieren zu viele, die dafür nicht geeignet sind.“ Er erzählt von seinen Sprechstunden, in die Studierende kommen und dann bekennen: „Ich habe nicht gewusst, dass Wissenschaft eine so große Rolle spielt im Studium.“
Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg. Darin sind sich Putzfrau und Professor einig
Doch woher weiß ein 17-Jähriger, was ihn im Studium erwartet und ob ihm die Wissenschaft liegt? Am ehesten wissen es Jugendliche, deren Eltern selbst an der Uni waren. Und wer solche Eltern nicht hat?
Wenn Cihan Ayaz mit kräftigen Schwüngen die Tafel wischt, erkennt man den Profi. Drei Jahre hat er Gebäudereiniger gelernt, sein Ausbildungsbetrieb hätte ihn gern übernommen. Doch es kam anders. Ayaz holte das Abitur nach und studiert jetzt im vierten Semester Physik an der Freien Universität Berlin.
Durch die Fensterscheiben des Seminarraums dringt bleiches Nachmittagslicht. Der Kreidestummel verschwindet fast in seiner Hand. Er kritzelt Buchstaben und Rechenzeichen an die Tafel, erläutert knapp seinen Rechenweg in den Mikrokosmos der Quantenphysik. Ein Kommilitone fotografiert mit seinem Smartphone das Tafelbild.
Ayaz glaubt an das Versprechen, daran, dass er es vom Fensterputzer zum Professor schaffen kann. Nach seinem Hobby gefragt, denkt er kurz nach. Und sagt dann: „Rechnen“. Er fällt auf unter den jungen Menschen hier. Sein kurzgeschorenes Haar weicht zurück, das Tattoo am Hals und die Zahnlücke zeugen von einer Vergangenheit außerhalb des Instituts für Naturwissenschaften an der Berliner Elite-Universität.
Er fiel auch Wilhelm Hansen auf, als er 2010 in seine Klasse kam. Dass Ayaz heute studieren kann, verdankt er auch ihm. „Wenn Cihan an die Tafel ging, dann hatte er eigene Gedanken, schlug eigene Wege vor.“ Hansen, 54, unterrichtet Mathematik am Studienkolleg Schöneberg. Das Studienkolleg ist eine Institution des zweiten Bildungsweges, einer der vielen Pfade, die in Deutschland zu einem Studium führen können. Weil möglichst jeder die Chance haben soll, sich möglichst lange im Leben fürs Studieren zu entscheiden.
Menschen wie Wilhelm Hansen sorgen mit ihrem Engagement dafür, dass die Zahl der Studierenden wächst. Etwa 130 neue Schüler legen jedes Jahr zu Schuljahresbeginn ihre Anmeldebögen auf seinen Tisch. „Sagen wir: Das ist keine bildungsbürgerliche Klientel. Es gibt viele Schüler, die waren noch nie in der Oper“, sagt er. Ein Viertel von ihnen schafft es dann doch nicht bis zum Abitur.
Nach Nida-Rümelins Logik wäre das nicht so tragisch. „Kognitive Intelligenz ist nicht das Maß aller Dinge“, sagt er. Andere Kompetenzen seien genauso wertvoll: technische, handwerkliche, kaufmännische, soziale oder ästhetische. „Der Bildungsweg bis zur Meisterprüfung ist anspruchsvoll und führt in der Regel zu einer sicheren und gut bezahlten Berufstätigkeit.“
Als Cihan Ayaz neun Jahre alt ist, zieht seine Mutter aus Ankara mit ihm nach Berlin. Von seinem Vater trennt sie sich kurz darauf. In Deutschland findet die türkische Beamtin einen neuen Job – als Putzfrau – und einen neuen Mann. Alle gemeinsam ziehen sie nach Neukölln.
Anja Suchert mag Mangas. Koreastudien also?
Die dritte Klasse wiederholt Ayaz, der kaum ein Wort Deutsch spricht, nach Klasse sechs bekommt er eine Empfehlung für die Realschule. Doch sein Cousin, der im bürgerlichen Charlottenburg wohnt, setzt sich für ihn ein und meldet ihn am dortigen Schiller-Gymnasium an, Cihan sei ein kluger Kopf. Jahrelang pendelt Ayaz mit der S-Bahn ans andere Ende der Stadt. Dann gibt es Streit mit seinem Stiefvater. „Ein Riesenkrach.“ Cihan verlässt die Wohnung. Am nächsten Tag geht er nicht mehr zur Schule. Da ist er 17 Jahre alt.
Ayaz zieht aus und jobbt bei McDonald’s. Er nimmt sich vor, wieder in seine Klasse zurückzukehren. Doch je länger er Softdrinks einfüllt und Pommes rüttelt, desto utopischer scheint ihm dieser Vorsatz.
Die Fehltage auf dem Halbjahreszeugnis waren zweistellig, unter den Fünfen und Sechsen stach allein die Drei in Mathe heraus. „Ich dachte, ich schaff das Abitur sowieso nicht, ich bin dazu nicht fähig.“ Seine Mutter hatte ihrem älteren Sohn immer gesagt: Es ist mein Herzenswunsch, dass du mal studierst. Er hat das Gefühl, versagt zu haben.
Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg. Darin sind sich Putzfrau und Professor einig.
Doch die Chancen sind ungleich verteilt. Während drei von vier Kindern aus Akademikerfamilien ein Studium beginnen, schafft es nur jedes vierte Kind aus einem Arbeiterhaushalt. „Akademikerkinder müssen, um einen akademischen Abschluss zu erreichen, das Gleiche machen wie ihre Eltern“, sagt der Soziologe Steffen Schindler, der zu sozialer Herkunft und Hochschulzugang forscht. „Sie reproduzieren ihren Status. Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern müssen ausbrechen und neue Wege gehen.“ Deshalb spricht man auch oft von der „Aufstiegsangst“ der Arbeiterkinder. Schaffe ich das wirklich? Wird mir das nicht alles zu viel?
Als sie in der zwölften Klasse war, habe es niemanden interessiert, was sie einmal werden wolle, erzählt Anja Suchert und wippt ein wenig auf dem Stahlrohrstuhl. „Wir waren ziemlich uns selbst überlassen.“
Suchert verbringt die Sommerferien mit anderen Kindern auf dem Spielplatz ihrer Siedlung, die Berliner Stadtgrenze überquert sie nur zu Klassenfahrten nach Brandenburg, zweimal besucht sie ihre Tante in Bayern. Als Jugendliche liest sie Mangas, die japanischen Comics, und schaut Manga-Serien im Fernsehen. Sie beginnt, sich für Asien zu interessieren. Koreastudien kann man an der Freien Universität Berlin ohne Zulassungsbeschränkung studieren. Im Wintersemester 2011 schreibt sie sich dort ein, zwei Jahre, bevor Ayaz sich immatrikuliert.
Doch das Studium fällt ihr schwer. Zwei Jahre müht sie sich mit den verschiedenen Formen des Honorativ ab, und den An-, In- und Auslauten der koreanischen Sprache. „Am Ende kam ich nicht mehr hinterher“, sagt Anja Suchert.
Weitermachen oder aufhören? Das Bafög-Amt nimmt ihr die Entscheidung ab. Bis zum Semesterende brauche sie noch zehn Leistungspunkte, sonst verfalle ihr Anspruch, steht im maschinell erstellten Schreiben. Doch mit Job käme sie beim Studium gar nicht mehr mit. Sie bricht ab. „Hat nicht sollen sein“, sagt sie und zuckt die Schultern. Am Tag danach schreibt sie die ersten Bewerbungen.
Jeder dritte Bachelorstudent an einer Universität hat 2012 das Studium ohne Abschluss beendet. Was hat Anja Suchert gefehlt? Jemand, der sie motiviert? Ein anderes Fach?
Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung untersucht, woran Studierende an den Universitäten scheitern. Das bisherige Ergebnis: In den Ingenieurstudiengängen und Naturwissenschaften, wo die Abbruchquoten besonders hoch sind, seien vor allem Leistungsprobleme und Prüfungsversagen das Problem. Das gilt auch für Menschen aus Migranten- und Arbeiterfamilien. Doch die stünden noch vor einer weiteren Hürde: Sie gäben häufiger wegen finanzieller Probleme auf als andere Abbrecher.
Die Aufstiegsangst. Du kannst es doch gar nicht schaffen.
Im siebten Flur des Siemens-Ausbildungwerkes riecht es nach Öl, Metall und Kühlwasser. Gelbe Streifen markieren den Gehweg, die Fläche dahinter darf nur mit Arbeitsschuhen betreten werden.
„Früher gab’s hier Hilfsarbeiter, Facharbeiter, Meister, Techniker und Ingenieure“, sagt Norbert Giesen und hält fünf Finger hoch. Er ist einer der Ausbildungsleiter hier. Dann klappt Giesen drei Finger ein. „Jetzt gibt’s nur noch Facharbeiter und Ingenieure. Das was früher die Ingenieure machten, machen bei uns heute die Facharbeiter.“ Viele der Lehrlinge hier haben Abitur.
Im ersten Lehrjahr bauen sie einen Schraubstock, schneiden Gewinde und feilen die Stahlbacken auf Zehntelmillimeter genau. Im zweiten Lehrjahr programmieren sie eine Abfüllanlage für Nasenspray. Im dritten entwerfen sie im Team eine Maschine.
Die Arbeitswelt hat sich verändert. Die Grenzen zwischen Ausbildungsberufen und akademischen Jobs verschwimmen. Die jungen Frauen und Männer in den blauen Overalls hier können alle genau reflektieren, was sie gerade tun. Das große Ganze im Kleinen sehen. Den Arbeiter, der nur macht und tut und das Reden den Studierten überlässt, den bildet eines der größten deutschen Unternehmen schon lange nicht mehr aus.
Wie sinnvoll ist es also noch, zwischen kognitiven und praktischen Begabungen zu differenzieren? Sehr sinnvoll, laut Nida-Rümelin. Er ist zwar dafür, Kinder länger gemeinsam lernen zu lassen, in einer Gesamtschule also. Da ist er ganz Sozialdemokrat. Wenn es aber um die Zeit nach der Schule geht, argumentiert er wie die Konservativen vor zehn Jahren und fordert, zwischen praktischer Ausbildung und theoretischem Studium zu trennen.
Aber wird nicht das Tun besser, wenn es mit Reflexion einhergeht?
Cihan Ayaz lernt putzen. Seine Tugend: Disziplin
Die Zusage trifft ausgerechnet am Heiligabend ein. Die Firma Osram würde sie gern als Mechatronikerin ausbilden. Anja Suchert ist glücklich. Osram gehörte bis vor wenigen Jahren zu Siemens. Alle Lehrlinge erhalten ein Übernahmeangebot. Das Einstiegsgehalt für Mechatroniker beträgt 2.500 Euro brutto. Dazu kommen Zuschläge, Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Damit lassen sich Bafög-Schulden abtragen, eine eigene Wohnung mieten, eine Familie gründen, Urlaube planen. Dinge, von denen manch promovierter Geisteswissenschaftler träumt.
Ein Studium ist kein Garant für ein gegen Arbeitslosigkeit und Armut gepolstertes Leben. Davon zeugen die zahlreichen Akademiker, die in überfüllten Tutorien und bei freien Bildungsträgern zu Dumpingpreisen arbeiten.
Sie stützen Nida-Rümelins These vom Akademisierungswahn. Per Fernbedienung projiziert er die Durchschnittseinkommen von Geisteswissenschaftlern und Technikern an die Wand. Voilà – die Meister und Techniker verdienen im Schnitt besser.
Doch diese einfache Rechnung wird komplizierter, wenn man in einer Branche bleibt. Wer als Chefarzt im Krankenhaus operiert, kann im Monat auf fünfstellige Beträge kommen. Wer die Frischoperierten pflegt, geht mit durchschnittlich 2.300 Euro nach Hause.
Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnet über eine Million Menschen, die arbeiten und dabei so wenig verdienen, dass sie ergänzend Hartz IV beziehen. Knapp die Hälfte arbeitet in regulären, sozialversicherungspflichtigen Jobs. Die Top Five der „Aufstocker“ führen die Reinigungskräfte an, gefolgt von Fachkräften im Gastgewerbe. Branchen, in denen die Arbeitgeber besonders laut über zu wenige Azubis klagen.
Zwei Jahre, nachdem Cihan Ayaz die Schule abgebrochen hat, beginnt er eine Lehre als Putzkraft – in der Firma seiner Mutter. Er lernt nun, Büros, Operationssäle und Glasfassaden zu reinigen. „War nicht so meins“, sagt er heute. Er hasst es, wenn sie „gondeln“ müssen. Dann stehen sie auf einer schmalen Plattform in luftiger Höhe und putzen die etwa 3.000 Fenster des Bahntowers am Potsdamer Platz. Und doch: Er macht den Abschluss. Zu seinen wichtigsten Tugenden zählt Ayaz: Disziplin.
Der Bildungsaufstieg: Klappt oft nur durch Zufall
Seine Freundin, die heute auch studiert, bringt ihn dazu, sich am Studienkolleg anzumelden. Wilhelm Hansen empfiehlt ihn für ein Aufstiegsstipendium. Ayaz, der das Kolleg im Sommer 2013 mit einem Durchschnitt von 1,0 verlässt, wird angenommen. Die Bundesregierung finanziert sein Studium.
Mittlerweile meldet eine ganz neue Klientel ihren Anspruch auf akademische Bildung an: die Kinder von Einwanderern. Mitte der 90er Jahre hätten sie den ersten türkischen Schüler noch mit Handschlag begrüßt, erzählt ein Berliner Schulleiter. Heute hätten 600 der 750 Gymnasiasten keinen deutschen Hintergrund. „Eltern mit Migrationshintergrund haben über alle Milieus hinweg hohe Bildungsziele für ihre Kinder“, heißt es in einer Befragung von Wissenschaftlern der Universität Düsseldorf. Die Zahl der Studienanfänger steigt also auch, weil Kinder aus Migrantenfamilien den sozialen Aufstieg wagen.
Der klappt aber oft nur durch Zufall. Wenn zum Beispiel junge Menschen Förderern begegnen, die ihre Begabung erkennen. Einen solchen Mentor hat Anja Suchert vor und während ihres Studium nicht getroffen. Vielleicht würde sie sonst Mathe oder Biologie studieren, ihre Lieblingsfächer in der Schule. Vielleicht wäre sie in Korea. Es hätte die Möglichkeit gegeben, ein, zwei Semester dort zu studieren. Aber für die Einreise brauchte man einen Nachweis über 10.000 Dollar auf dem Konto. „Ich wusste, dass niemand aus der Familie mir so viel Geld borgen konnte.“ Sie zuckt die Schultern. Dass Wünsche unerfüllt bleiben, damit ist sie aufgewachsen.
Koreanisch lerne sie aber immer noch, sagt sie zum Abschied. „Zu Hause, in meinem Tempo.“
In eineinhalb Jahren wird Cihan Ayaz seinen Bachelor-Abschluss machen, danach wird er in den Masterstudiengang wechseln. „Auf jeden Fall.“ Er hat vor zu promovieren, in Kanada oder den USA. Er belegt gerade zusätzlich Englischkurse. Er traut sich zu, es bis nach oben zu schaffen – zur Professur.
Begabung allein wird nicht reichen, sagt sein ehemaliger Lehrer Wilhelm Hansen. „Ich würde mich freuen, wenn Cihan jemanden findet, der ihn unter seine Fittiche nimmt und mitzieht. Ein aufstrebender Stern im Wissenschaftsbetrieb am besten.“ Er selbst kann das nicht mehr sein.
■ Anna Lehmann, 39, ist taz-Bildungsredakteurin und ausgebildete Fremdsprachenkorrespondentin