: Zwischen Sein und Sollen
PHILOSOPHIE In „Warum erwachsen werden?“ erklärt Susan Neiman, frei nach Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau, den erwachsenen Menschen zum reisenden Konsumkritiker
VON KATHARINA GRANZIN
Wir leben heutzutage in einer völlig anderen Welt als Immanuel Kant in seinem Königsberg des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Eigentlich. Und dennoch, das macht die amerikanische Philosophin Susan Neiman in ihrem Buch über das „Erwachsenwerden“ deutlich genug, sind Kants grundlegende Überlegungen dazu, was es bedeute, ein mündiger, aufgeklärter Mensch zu sein, so aktuell wie eh und je. „Ein subversives Ideal“ nennt Susan Neiman das Erwachsenwerden. Aber warum subversiv? Und was soll das denn sein: „erwachsen“?
Frei nach Kant fasst Neiman den Begriff so: „Erwachsen werden heißt, die Ungewissheiten anzuerkennen, die unser Leben durchziehen und – schlimmer noch – ohne Gewissheit zu leben, aber einzusehen, dass wir unvermeidlich immer nach ihr suchen werden.“ Wir seien gefangen zwischen „Sein“ und „Sollen“.
Schon das Kind muss feststellen, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, und reagiert darauf häufig mit hilfloser Wut. Dem Erwachsenen aber obliegt es, den Antagonismus zwischen dem Sollen und dem Sein nicht nur auszuhalten, sondern nach dem Sollen zu streben, ohne am Sein zu verzweifeln.
Neben Kant bezieht Neiman sich vor allem auf Rousseau. Mit „Émile“ hatte das autodidaktische Allroundgenie das Urbild aller Bildungsromane vorgelegt und dabei die europäische Auffassung von Kindheit und Erziehung grundlegend geprägt. Neiman unterlässt es nicht, auf die vielfältigen Widersprüche in Rousseaus Werk hinzuweisen, wird aber nicht müde, seine überragende Bedeutung für alle, die nach ihm kamen, zu betonen; den Zeitgenossen Kant eingeschlossen.
Das alles liest sich über weite Strecken ganz wunderbar und anregend und macht sogar Lust, sich irgendwann doch noch mal an Kant zu versuchen – obwohl oder vielleicht gerade weil Neiman erwähnt, sogar Bertrand Russell sei über der „Kritik der reinen Vernunft“ eingeschlafen. Schade nur, dass Neimans Darstellung ausgerechnet dort, wo sie von der Rezeption der verstorbenen KollegInnen (natürlich geht die Riege der Zitierten über Kant und Rousseau hinaus) ins Freie der eigenen Gedankenführung übergeht, sich zu sehr im Gemeinplatzartigen und letztlich Unpolitischen verzettelt. Durch den rhetorisch geschickt als Frage formulierten Buchtitel angefüttert, wartet man natürlich einigermaßen dringend auf Antwort. Warum nur, und für was, sollen wir denn erwachsen werden? Kann es wirklich nur darum gehen, nicht jedes neue iPhone-Modell gleich haben zu wollen?
Leider liefe es, wenn man sich mit Susan Neimans Ausführungen zufriedengäbe, wohl genau darauf hinaus. Ihre erfrischende Darstellung der europäischen Philosophie der Aufklärung mündet in eine Tirade gegen die spätkapitalistische Warenwelt und ihre verlockenden, doch in die Irre führenden Imperative. Und natürlich ist das alles ganz richtig, aber war das jetzt schon alles? Was für Kant die Überwindung des Absolutismus in den Köpfen war, ist für uns der Konsumskeptizismus? So billig kann Aufklärung im 21. Jahrhundert ja wohl nicht zu haben sein.
Was die Herausforderungen einer globalisierten Welt betrifft, fällt Neiman übrigens nichts Originelleres ein, als zum Bereisen anderer Länder zu ermutigen – zum „richtigen“ Reisen wohlgemerkt, das allein das Erwachsenwerden befördere, nicht jener infantilisierten Form, die die meisten Menschen bevorzugten. Dass Kant selbst nie weiter als siebzig Kilometer von Königsberg entfernt war, behandelt die Autorin als humoristische Fußnote.
Und dass „Reisen“ – darin nicht viel anders als das iPhone – ein luxuriöses Lifestyle-Gut ist, von dem der Großteil der Menschheit nur träumen kann, ist ein Gedanke, der in Neimans Buch nicht ansatzweise auftaucht. Sie stellt nicht infrage, dass Kant natürlich dennoch irgendwie erwachsen war. Wie aber steht es mit den geschätzt mindestens fünf Milliarden Nichtreisenden unter der heutigen Weltbevölkerung? Sind die alle nicht „erwachsen“? Besitzen sie, mangels diversifizierter Welterfahrung, etwa keine Urteilskraft?
Denn den Besitz und eigenständigen Gebrauch einer solchen identifiziert Neiman – natürlich ebenfalls nach Kant – als herausragendes Kennzeichen des Erwachsenseins. Im Übrigen sei die Urteilskraft die einzige Fähigkeit des Menschen, die mit steigendem Alter zunehme. Falls das wirklich stimmen sollte, wäre das ja immerhin eine Teilantwort darauf, warum wir erwachsen werden sollten. Mehr aber auch nicht.
■ Susan Neiman: „Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung“. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Hanser Berlin 2015, 240 Seiten, 19,90 Euro