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Archiv-Artikel

Manische Angst vor dem Kontrollverlust

CHAMPIONS LEAGUE Der FC Bayern steht nach einem berauschenden 6:1 gegen Porto im Halbfinale. Pep Guardiola übt dennoch Kritik

Das Münchner Publikum war elektrisiert, war euphorisiert

AUS MÜNCHEN DAVID JORAM

„Es geht noch besser.“ So lautete der Kern der Botschaft, die Pep Guardiola der versammelten Presse nach einem berauschenden Europapokalabend mit auf den Nachhauseweg gab. Guardiola, dessen zuletzt viel beschriebene Allmacht im Klub bis zur nächsten Niederlage wohl nicht mehr hinterfragt wird, zog als Maßstab dafür tatsächlich jenes 6:1 heran, das seine Bayern am Dienstagabend gegen einen bemitleidenswerten FC Porto erzielt hatten.

Er zog also ein Spiel heran, das in vielerlei Hinsicht in die Geschichtsbücher eingehen wird. 14-mal hatten deutsche Teams in der Champions League versucht, einen 2-Tore-Rückstand aus dem Hinspiel wettzumachen. 14-mal waren sie daran gescheitert, davon allein viermal der FC Bayern. Diese schwarze Serie haben die Münchner nun eindrucksvoll durchbrochen. Nebenbei überholte Thomas Müller mit seinem 27. Tor in der Königsklasse Mario Gomez als besten deutschen Torjäger in diesem Wettbewerb. Und das in Guardiolas 100. Pflichtspiel als Bayern-Trainer. 70.000 Zuschauer interessierte das nur am Rande, sie feierten viel lieber den bajuwarischen Traumfußball der ersten 45 Minuten.

Wie eine unerbittliche Maschine zogen die Bayern ihr Spiel auf. Passsicher, kombinationsstark und taktisch leicht verändert ging’s stets druckvoll Richtung Gästetor. Über außen ließen Lahm und Rafinha auf rechts sowie Götze und Bernat auf links die in wichtigen Spielen eigentlich vorgesehenen, derzeit aber verletzten Einzelkönner Ribéry und Robben vergessen. Im Zentrum ragte Thiago heraus. Vorne wirbelten Lewandowski und Müller alles durcheinander, was sich ihnen in den Weg zu stellen versuchte. Bevor dem FC Porto die ersten Ballstafetten gelangen, lagen sie schier uneinholbar zurück. Elf Torschüsse gaben die Bayern in Hälfte eins ab, acht auf das Tor, fünf fanden durch Thiago (14. Minute), Boateng (22.), Lewandowski (27.), Müller (36.) und wieder Lewandowski (40.) ihr Ziel. Portos Bilanz? Dreimal null. Der Stadionsprecher rief zur Halbzeit bereits eine Bayern-„Sternstunde“ im Europapokal aus, die Spieler in Rot und Weiß grinsten verschmitzt auf dem Weg in die Kabinen, tosender Applaus schallte ihnen entgegen. Das Publikum war elektrisiert, war euphorisiert – einer jener magischen Europapokalabende, von denen im Vorfeld niemand zu träumen wagt, hatte seinen Lauf genommen. Selbst der perfektionistische Guardiola dürfte insgeheim daran gezweifelt haben, dass es noch besser geht.

Was aber genau meint Guardiola eigentlich, wenn er sagt „Es geht noch besser“? Will er künftig zwei Halbzeiten wie die erste sehen? Nein. Auch Guardiola weiß, dass Fußball keine Mathematik ist. Die Rechnung „5 in der ersten, 5 in der zweiten“ geht selten auf. Was Guardiola lediglich will, umschreibt er mit einem einfachen Satz, dessen Umsetzung aber gar nicht so einfach ist: „Wir müssen das Spiel immer kontrollieren.“

Nun könnte man annehmen, dass ein Team mit einer komfortablen 5:0-Führung das Spiel jederzeit nach Belieben kontrolliert. Allerdings hat Guardiola erkannt, dass seine Mannschaft in der zweiten Halbzeit eine Phase hatte, in der sie das Spiel eben nicht mehr wie von ihm gewünscht beherrschte. Er rief deshalb nach 72 Minuten das Quartett Lahm, Thiago, Müller und Götze zu sich und gab ihm zu verstehen, dass gerade Porto das Spiel bestimmte. Guardiola erklärte sehr energisch, wild mit den Armen fuchtelnd. Das Quartett nickte und leitete die Anweisungen an den Rest des Teams weiter.

Bis die Planänderungen angekommen waren, hatte Jackson Martínez aber das 1:5 erzielt (75.). Und nur zwei Minuten später hätte er fast das 2:5 folgen lassen. Aufgrund der Auswärtstorregel hätte Porto dann nur noch ein Tor zum Weiterkommen benötigt. Bei 13 Minuten Restspielzeit nicht unmöglich, zumal das portugiesische Team das Momentum auf seiner Seite hatte. Martínez zielte aber vorbei. Bayern beruhigte das Spiel danach wieder und kam durch Alonsos genau gezirkelten Freistoßtreffer zum 6:1-Endstand (88.). Die drohende Gefahr hatte nur Guardiola erkannt. Deshalb geht es für ihn noch besser. Denn er weiß nur allzu gut, dass sich eine labile Phase in der Bundesliga korrigieren lässt, sie in der Champions League aber das endgültige Aus bedeuten kann.

Guardiola will deshalb, dass seine Mannschaft stets die Fäden in der Hand behält. Dann erst spricht er von einem perfekten Spiel. Natürlich ist der Blick dabei nach vorne gerichtet. Im Halbfinale der Champions League kann es genau darauf ankommen. Und im nächsten K.-o.-Spiel, dem DFB-Pokalhalbfinale, ebenso. Der Gegner heißt Borussia Dortmund und hat einen Trainer, der nicht nur bei seinem Abgang ein feines Gespür für den richtigen Moment hat. Gegen Bayern will er das ausnutzen, bevor Guardiola einen absolut perfekten Plan entwickelt hat. Aus dessen „Es geht noch besser“-Satz darf man ableiten, dass er ganz akribisch daran tüftelt.