: Lernen wie bei Muttern
Wenn der heimische Küchenstuhl zur Schulbank wird: Eltern, die in Deutschland ihre Kinder selbst unterrichten wollen, müssen hohe rechtliche Hürden nehmen
„Mein Hobby war immer das Unterrichten“, erklärt Hans-Joachim Dreis. Deshalb bleibt der 64 Jahre alte Lehrer aus Siegen auch als Rentner seiner Berufung treu und lehrt für die Philadelphia-Schule die Fächer Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Sozialkunde und Politik. Im „größten Klassenzimmer der Welt“, wie er seinen Arbeitsplatz stolz nennt, obwohl es in der Philadelphia-Schule und für ihre rund 300 Schüler gar keine Klassenzimmer gibt. Vielmehr leben diese in Slowakien, Belgien, Ungarn und Österreich oder an vielen deutschen Orten und lernen zusammen mit ihren Geschwistern zu Hause: in der Küche, im Kinderzimmer oder in einem Arbeitszimmer, meist angeleitet von der Mutter. Lehrer Dreis hat für die Klassen 1 bis 10 in seinen Unterrichtsfächern Wochenstundenpläne konzipiert und Stundenskizzen erstellt. Sie helfen den Kindern, selbstständig den Unterrichtsstoff zu lernen. In Tests, Diktaten und Aufsätzen werden die Leistungen abgefragt. Der Lehrer bekommt sie via Post oder Internet, korrigiert und schickt sie zurück. Die Vorteile des Hausunterrichts sieht Dreis darin, dass die Kinder in Ruhe und in ihrem Tempo lernen können, individuelle Begabungen individuell gefördert werden und vor allem, dass die Familie gestärkt wird. Die Kosten: jährlich 75 Euro Schulgebühr, für die persönliche Betreuung durch einen der zehn Lehrer monatliche 30 Euro.
In Deutschland bewegen sich Eltern mit der Entscheidung, ihre Kinder nicht auf eine staatlich anerkannte Schule zu schicken, auf dünnem Eis. Das Gesetz erlaubt Bildung zu Hause nur deutschen Schülern, deren Eltern im Ausland arbeiten, oder stark behinderten und schwer kranken Schülern, die nicht transportfähig sind. Die, die es trotzdem wagen, verstoßen gegen die 1871 als Staatsaufgabe eingeführte allgemeine Schulpflicht. Die Gesetzgeber in der europäischen Nachbarschaft – unter anderen in der Schweiz, Österreich, Dänemark, Finnland oder England – sehen lediglich eine Bildungs- und Lernpflicht vor und gestatten unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen die Bildung der Kinder zu Hause. „Homeschooling“ heißt diese Alternative in den USA. Dort werden derzeit rund 2 Millionen Kinder zu Hause unterrichtet.
Helmut Stücher, Leiter der nach amerikanischem Vorbild aufgebauten Philadelphia-Schule, erlebte selbst, was passiert, wenn Eltern die Schulpflicht missachten. 1980 entschlossen er und seine Frau, ihre sieben Kinder zu Hause zu unterrichten. Auch nach einem Bußgeldbescheid und gerichtlicher Vorladung blieb Ehepaar Stücher bei seinen Plänen. Drei Jahre später entzog das Jugendamt den uneinsichtigen Eltern das Sorgerecht. „Ein Drama“, erinnert sich der Vater. Nach großem Ringen lenkten die Behörden schließlich ein. Familie Stücher blickt heute auf 17 Jahre Erfahrung mit Heimunterricht zurück. Alle Kinder haben einen regulären Schulabschluss, den sie durch eine so genannte extern abgelegte Fremdenprüfung machen konnten.
„Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen, sind nicht bildungsfeindlich“, erklärt auch Ingrid Günther vom 1991 gegründeten Verein Schulunterricht zu Hause. Sie würden sich nur dagegen wehren, in ihren Elternrechten beschnitten zu werden. „Eltern müssen entscheiden dürfen, in welchem Umfeld ihre Kinder lernen und erzogen werden.“
So rigoros in ihrer Sicht sind in Deutschland und weltweit meistens Eltern, die ihre religiösen und christlichen Wertvorstellungen in der Schule nicht angemessen vertreten sehen. Andere wollen ihre Kinder vor negativen Einflüssen – Drogen und Gewalt – schützen oder haben Kinder, die eine regelrechte Schulangst entwickelt haben. „Gibt es am Ort keine alternative Bildungseinrichtung, kommt für einige Eltern nur noch der Hausunterricht in Frage“, so Günther.
Die Angst, dass die Erlaubnis zum „Heimunterricht das Ende der Schulpflicht ist“, wie sich jüngst Andreas Fincke von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen äußerte, findet Günther Pflüger, Leiter der Deutschen Fernschule (DF), unbegründet. Die DF erzielt seit Mitte der 70er-Jahre große Erfolge mit ihren Materialien und Lernmethoden für Kinder deutschsprachiger Eltern, die im Ausland leben und zu Hause unterrichtet werden. Sie integrieren sich nach der Rückkehr problemlos in das öffentliche Schulsystem und schneiden in ihrer sozialen Kompetenz und in ihrem Leistungsniveau mitunter besser ab als ihre Klassenkameraden. „Der Heimunterricht wird nie eine Breitenbewegung werden, denn die meisten würden schreien, müssten sie ihre Kinder selbst unterrichten“, so Pflüger. Der Weg zu einer zufrieden stellenden Bildung führe aber nicht nur über die breite deutsche Bildungsautobahn.
VERENA MÖRATH
www.deutsche-fernschule.de, www.hausunterricht.de, www.schuzh.de