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Archiv-Artikel

wir lassen lesen Filzballtitan und Tunichtgut

Dankenswerterweise vernachlässigt Boris Becker in seinem Buch nicht, was er in erster Linie ist: ein Tennisspieler

Zunächst mal macht Boris Becker alles richtig. „Auf dem Tennisplatz habe ich geweint, geklagt, geblutet, gelitten, gehustet.“ So beginnt das Vorwort seiner Autobiografie, und schon ist der Leser dort, wo er hingehört: auf dem Centre Court. Vor dem geistigen Auge ersteht das Bild eines John McEnroe, der, genervt vom ständigen Hüsteln, mit dem Becker in jenen Tagen die Gegner zur Weißglut treibt, seinerseits anhebt zu krächzen wie die Kameliendame in den letzten Zügen. Becker hat dem Amerikaner diesen parodistischen Auftritt damals in Paris-Bercy ziemlich übel genommen, später aber, obwohl sonst sehr nachtragend, generös verziehen.

Das bisherige Leben des Boris Becker ist neueren Eindrücken zum Trotz vor allem die Geschichte einer einzigartigen Sportlerkarriere. Entfernt vergleichbar jener von Steffi Graf oder Franziska van Almsick, doch wesentlich dramatischer durch die Wucht, mit der der 17-Jährige die Bühne der Öffentlichkeit betrat, und durch jenen erratischen, explosiven, bisweilen aufdringlichen und mitunter kuriosen Charakter, der alsbald zutage trat – Filzballtitan und Tunichtgut in Personalunion.

Kaum ein Sportfan, der sich nicht an die Tage im Sommer 1985 erinnert, als ein „eigenartiger Kerl“ (McEnroe) aus Baden plötzlich Wimbledon gewann und jene Beckermanie entfachte, die bis heute nachwirkt. Was mag aus ihm werden?, fragte sich jeder, der ihn damals inmitten des vulkanhaft losgebrochenen Rummels erlebte, naiv, großäugig und mit einem breiten, vertrauensvollen Lächeln für jeden, der freundlich zu ihm war, ob Politiker, Geschäftsmann, TV-Moderator oder Boulevard-Reporter. Würde er ewig unter der Fuchtel seiner „Väter“ bleiben, wie er seine Betreuer Ion Tiriac und Günther Bosch arglos nannte, zum Dummerchen und Geld scheffelnden Tennisroboter ohne eigenen Willen heranwachsen? Oder aufmüpfig die Dinge in die eigene Hände nehmen? Die Antwort ließ nicht auf sich warten, und jeder bekam sie mit, da nichts mehr verborgen blieb, was Boris Becker tat und trieb.

Die subjektive Sicht dieser Entwicklung nachzulesen lohnt sich – trotz aller Vorbehalte gegen Autobiogragien, denen gemeinhin der Weichspüler der eigenen Wahrnehmung, der Filter rigider Zensur von unliebsamen Erinnerungen sowie die Glattbüglung durch die Hand der Ghostwriter eigen ist. Zwar bekommen breit getratschte Themen wie Steueraffäre und Scheidung ebenso ihren Platz wie die – recht diskret abgehandelten – Frauengeschichten, doch reichlich kommt auch vor, was das Wesentliche im Leben des Selbstbiografen ausmachte: Tennis. Mit gewissem Staunen registriert der lesende Sportfreund, dass sein eigenes Dasein während einer nicht geringen Zeitspanne offenbar durch Becker-Matches akzentuiert wurde.

Da ist der zweite Wimbledon-Sieg 1986 gegen Ivan Lendl, endgültige Aufnahme in die Tennis-Elite; die Jammer-Orgie mit fortgesetzter Schlägerzertrümmerung beim Ausscheiden gegen Wally Masur Anfang 1987 in Melbourne inklusive anschließender dramatischer Bosch-Trennung; das Heldenepos von Hartford im Daviscup mit dem Sechseinhalbstunden-Marathon gegen McEnroe; der Daviscup-Sieg gegen Schweden 1988 in Göteborg; der legendäre Netzroller beim Masters-Triumph 1988 gegen Lendl im Madison Square Garden; der Aufstieg zur Nummer eins durch den Sieg bei den Australian Open 1991; das ewige Duell mit Andre Agassi; das verlorene Jahrhundertspektakel gegen Pete Sampras 1996 beim Mastersfinale in Hannover, das sowohl Becker selbst als auch der Amerikaner als ihr bestes Match bezeichnet; und immer wieder Wimbledon, vom ersten Donnerschlag über das Schlafmützenfinale gegen Edberg und das Debakel gegen den Spieler Stich bis zum letzten Hurra 1999 beim Aus gegen Pat Rafter. Ein bisschen ähnelt die Lektüre dem Konzert eines Musikers, den man längst aus den Augen verloren oder abgehakt hat, sagen wir mal: Steve Winwood, und der singt dann Gimme Some Lovin’, Keep on Running, Dear Mr. Fantasy und John Barleycorn.

Natürlich kommt ein Boris Becker nicht völlig ohne Pathos aus, doch über weite Strecken haben seine Autoren Lübenoff und Sorge ihren Job dezent und solide erledigt. Das sonst übliche philosophische und moralische Autobiografeln, das derartige Druckwerke oft so schwer erträglich macht, hält sich zumindest in Grenzen. Dafür ist ein anderes gängiges Phänomen erkennbar: Je länger das jeweilige Leben dauert, desto uninteressanter wird es. In welchen unappetitlichen Gefilden das von Boris Becker gelandet ist, demonstriert er unfreiwillig mit der Auflistung seiner drei Exklusiv-Interviewpartner nach dem Ende seines Steuerprozesses: Bild, Beckmann, Bunte. MATTI LIESKE

Boris Becker: „Augenblick, verweile doch …, Autobiografie, Bertelsmann 2003, 21,90 €