: Politik geht vor Politikern
EUROPA Heute startet das US-Magazin „Politico“ seinen Ableger in Brüssel. Er erscheint wöchentlich
Bescheiden ist Politico nicht. Vor dem Start des europäischen Ablegers verkündet das US-Politmagazin auf politico.eu, man sei in den USA zu einer unentbehrlichen Lektüre für die Mächtigsten geworden – „und nun kümmern wir uns um die Themen, Ideen und Persönlichkeiten, die Europas Politik ausmachen“.
Mit einer Nachrichtenwebseite und einer donnerstags in Brüssel auf Englisch erscheinenden Printausgabe will Politico mit dem Axel Springer Verlag, der das Projekt mitfinanziert, eine europäische Politikberichterstattung bieten. Weg von Landeskorrespondenten, hin zu einem Nachrichtenkanal für Leser von London bis Lissabon. Dafür übernahmen die Amerikaner und Springer das Magazin European Voices. 36 Reporter hat Politico zunächst angestellt, Chefredakteur ist Matthew Kaminski, der vom Wall Street Journal kommt. Die Seite wolle „schnell, zielgerichtet, akkurat, fair“ sein, sagte er der Süddeutschen Zeitung.
Nun ist die Politik der EU nicht leicht vermittelbar und sorgt für keine Klickrekorde. Doch für Politico ist Reichweite allein nicht alles. Den Machern kommt es auf die richtige Reichweite an.
Reines Onlinemagazin
John Harris und Jim VandeHei gründeten Politico 2007 als Onlinemagazin, damals eine Revolution. Auch entschieden die beiden ehemaligen Washington-Post-Journalisten, nur über Politik zu berichten. Ein Konzept, das aufging. Politico gehört in den USA zu den einflussreichsten Politmagazinen. Laut „Comscore“ hatte die Seite im März 2015 etwa neun Millionen Unique Visitors, also „eindeutige Besucher“. Nach anfangs 40 arbeiten heute etwa 300 Mitarbeiter für das Magazin, das mittlerweile auch gedruckt erscheint – täglich, wenn der Kongress tagt, wöchentlich, wenn Parlamentspause ist.
Die Einnahmen stammen laut Washington Post 2014 zu 40 Prozent aus Onlinewerbung, 20 Prozent aus Anzeigen in der kostenlosen gedruckten Ausgabe, weitere 30 Prozent bringt das kostenpflichtige „Politico Pro“. Der Rest werde über Einnahmen aus Events generiert.
Die einflussreichsten Menschen in Washington lesen morgens erst Politico und sprechen dann mit ihrem Ehemann oder ihrer Ehefrau, schrieb die New York Times 2010 zu „Playbook“, dem Newsletter von Chefreporter Mike Allen. Das Magazin setzte von Beginn an auf „online first“, auf Schnelligkeit. Es erwartet von den Reportern multimediales Arbeiten und Exklusivität Und das kostenpflichtige Angebot dreht die Spirale noch weiter.
Für Lobbyisten und Profis
„Politico Pro“ beschäftigt sich mit „Technologie“, „Gesundheit“ oder „Handel“ – Politik, nicht Politiker stehen im Fokus. Abonnenten können sich das zusammenstellen lassen. Das „Nieman Journalism Lab“ schrieb 2012, ein Jahrespreis starte bei mehr als 3.000 US-Dollar. Nichts, was der durchschnittlich interessierte Leser ausgibt. Aber Lobbyisten, Politiker und alle, die mit Politik Geld verdienen.
Das funktioniert, weil die Politik der USA in einem engen Zirkel in Washington gemacht wird. „The Hill“, das Gebiet um das Kapitol, gibt den Takt vor, Politico folgt – und verkauft sich clever. Auch mit dem umstrittenen „native advertising“, Werbung, die wie ein Bericht anmutet.
Ob sich dieses Konzept auf Europa übertragen lässt? Ein Zentrum wie Washington ist Brüssel nicht, Politik funktioniert dort anders. Doch sich von nationalen Grenzen zu lösen, könnte einem europäischen Journalismus guttun. Jenseits von Paywalls sucht die Branche nach wie vor nach Erlösmodellen im Netz, europäisch und zielgruppenspezifisch zu denken ist Politicos Angebot, um das US-Erfolgsmodell nach Brüssel zu bringen. RIEKE HAVERTZ