: Mach den Zahnarztklang noch mal
WHITETREE Robert und Ronald Lippok haben ein Album mit dem italienischen Pianisten Ludovico Einaudi aufgenommen. „Cloudland“ ist eine der schönsten Überraschungen des Jahres. Im HAU kann man sie heute hören
VON TIM CASPAR BOEHME
Berührungsängste kennt Ronald Lippok nicht. Er spielt mit seinem Bruder Robert in der Electronica-Band To Rococo Rot. Der dritte Mann im Bunde ihres neuen Projekts namens Whitetree ist nun der italienische Pianist Ludovico Einaudi. Dessen verträumtes Klavierspiel hat wenig mit den lakonischen Texturen der Brüder Lippok gemein. Im HAU kann man sich heute vom Gelingen dieser Begegnung überzeugen.
„Es gab schon Verwunderung“, beschreibt Ronald Lippok die Reaktionen auf ihre Ankündigung des Projekts. Die Ergebnisse dürften Skeptiker schnell beruhigt haben. Auf ihrem Debütalbum „Cloudland“ geraten die vermeintlich getrennten Sphären Einaudis und der elektronisch orientierten Lippoks auf so entwaffnend schöne Weise aneinander, dass man sich höchstens wundert, warum das nicht schon früher geschehen ist.
Die Geschichte von Whitetree, benannt nach einem seltsamen paradiesischen Ort in Amos Tutuolas Roman „Der Palmweintrinker“, begann eher beiläufig im Jahr 2004. Einaudi sprach die beiden nach einem Konzert von To Rococo Rot an, weil es ihm so gut gefallen hatte. Sie verabredeten lose, irgendwann mal zusammen zu spielen. „Dann hat er uns 2006 eingeladen, mit ihm eine Tour zu machen, ohne dass es überhaupt Material gab“, sagt Robert Lippok. Eine Woche vor dem ersten Konzert traf man sich in Mailand und erarbeitete das komplette Programm. „Ludovico hatte totales Vertrauen, dass es toll wird.“ Seine Erwartung wurde nicht enttäuscht.
Am Anfang gab es bei den Lippoks Unklarheiten, wie sie ihren rohen, von Clubmusik beeinflussten Klang mit Einaudis zarter Musik verbinden sollten, doch ihre Zweifel lösten sich beim gemeinsamen Improvisieren in Wohlgefallen auf. „Auch unseren Hang zu Störgeräuschen fand Ludovico gut“, erinnert sich Ronald Lippok. „Er sagte oft Dinge wie: ‚Mach doch diesen Zahnarztklang noch mal!‘“ Nach der Tour war Einaudi so begeistert, dass er mit den Lippoks eine Platte in Berlin aufnehmen wollte. Robert Lippok schlug das Studio Planet Roc auf dem ehemaligen DDR-Rundfunkgelände vor: „Ich hatte gehört, dass Phoenix da aufgenommen haben, und da ich großer Phoenix-Fan bin, bin ich mal zu dem Studio gefahren.“ Aufgenommen wurde dann in einem ehemaligen Raum für Hörspielproduktionen mitsamt unterschiedlich belegter Treppe für diverse Schrittgeräusche. Ihre Improvisationen spielten sie unter Live-Bedingungen ein, um etwas von der Spontaneität und Kraft der Konzerte zu bewahren – viele der Stücke waren schon 2006 entstanden. Hier und da musste am Arrangement gearbeitet werden, um „die krautig wuchernden Strukturen zu bändigen“, erzählt Ronald Lippok.
Trotz Einaudis akademischer Herkunft – er studierte beim Komponisten Luciano Berio – hatte keiner der Beteiligten den Eindruck, an einem Projekt der gegenwärtig so beliebten Sorte „Elektronik meets Klassik“ zu arbeiten. „Es war schon eher wie bei einer Jazzband, wo es um die drei Musiker geht“, charakterisiert Robert Lippok ihre Arbeit. Tatsächlich hat die Art, wie die drei einen gemeinsamen Klang schaffen, ohne dass ein Instrument klar dominieren würde, mehr mit Jazz als mit akademisch geprägtem Musizieren zu tun. Und die Zusammenarbeit geht über Whitetree hinaus. So ist Robert Lippok auch auf Einaudis neuem Soloalbum „Night Book“ zu hören.
Das größte Wunder der Musik von Whitetree ist allerdings, wie selbstverständlich sie sich zu ihrer Schönheit bekennt, ohne sie in irgendeiner Form gewaltsam brechen zu müssen. Zwar gehören zur Ausstattung von Whitetree auch Rhythmus und Geräusch, doch wie Ronald Lippok hervorhebt: „Das wurde nie strategisch angegangen nach dem Motto: Wie kann man diese beiden Welten zusammenbringen?“ So etwas wäre auch nicht nötig gewesen, alles findet wie von allein zu einem stabilen Gleichgewicht. Hier muss niemand einen angestrengten Kunstanspruch zum Klingen bringen, zugleich vermeiden es die Musiker, allzu locker zu lassen und in Richtung Kitsch oder Beliebigkeit zu entgleiten. Warum nicht mal feierlich werden: Dies ist Musik von gelassener Erhabenheit, wie sie höchst selten ist.
■ Whitetree: „Cloudland“ (Ponderosa), Ludovico Einaudi: „Nightbook“ (Decca); Konzert heute im HAU um 22 Uhr