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Archiv-Artikel

Bornierte Eliten und antiautoritäre Kämpfe

2009 Leistungsträger, Autoabfackler, Studierende – die Deutschen haben wieder politische Emotionen

Bildungsfabriken sind nämlich gerade kein Zeichen unzeitgemäß gewordener Disziplinierung

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

Der Steuerrebell ist eine ganz besonders trübe Type im Kabinett des falschen Bewusstseins. Gab es in der Geschichte der Popmusik einen würdeloseren Moment als den, als die Beatles mit einem Gequengel über die britischen Steuergesetze ausgerechnet „Revolver“ eröffneten („Taxman“)? Wohl kaum. Bald darauf traten in Europa organisierte Steuerrebellen auf den Plan; etwa der erste Rechtspopulist modernen Zuschnitts, der Däne Mogens Glistrup („Man ist entweder Rassist oder Landesverräter“). In den 70ern hatte der Mann, der das Zahlen von Steuern für prinzipiell unmoralisch hielt, mit seiner „Fortschrittspartei“, die keinen anderen als diesen Programmpunkt hatte, einmal 28 Prozent bei einer Erdrutschwahl erreicht – und damit als Erster das Phänomen des denkzettelwählenden Populismus in das postfaschistische Nachkriegseuropa gebracht. Später frönte er nur noch seiner zweiten Leidenschaft: Rassismus und Islamophobie.

Pünktlich zum ersten Todestag des inzwischen weitgehend vergessenen Glistrup sorgte im auslaufenden Jahr auch in Deutschland ein Steuerzahler-Manifest für Furore. Vor allem die Fortsetzung des undiskutablen Textes in einer Debatte mit teilweise honorig und triftig argumentierender Zurückweisung, aber auch breiter Zustimmung, nicht nur in abstoßenden Männerzeitschriften wie Cicero, auch bei anderen Autoren, mit und ohne Nietzsche-Macke, vereinigte sich bald mit dem Rinnsal einer anderen Elendsauseinandersetzung, ausgelöst durch einen ehemaligen Finanzsenator, einem anderen Aussprecher von etwas, das eigentlich alle denken, zu einem übelriechenden Tümpel der Aggression gegen Schwache, Andere und Ausländer.

Neu an dieser Entwicklung waren nicht so sehr die Ressentiments, die dabei laut wurden, auch nicht, dass eine Netzkommentatorenmeute in allen möglichen Foren, auch diesem, sich ermutigt fühlte, ihren Aggressionen freien Lauf zu lassen. Neu auch nicht, dass sich die Wortführer als unterdrückte Opfer einer politisch korrekten Meinungsdiktatur inszenierten. Auch der herrischste Herrenmensch stellt erst mal klar, dass er eigentlich ein Verfolgter ist.

Klassenkampf von oben

Neu war, dass in dieser Debatte und ihren Metastasen ein bislang nur latent und implizit durch Meinungsäußerungen geisterndes politisches Subjekt sein Debüt feierte und seine Manifeste nachgereicht bekam: der Leistungsträger. Der Leistungsträger ist eine frech-aggressive Abstraktion von jenem älteren Stammtischgast, dem Steuerzahler. Der Leistungsträger findet aber nicht nur wie der Steuerzahler, dass er persönlich alles mögliche Gesocks durchfüttert. Er erfindet sich als Vertreter einer ganzen Klasse von Durchfütterern, die den Laden eigentlich schmeißt. Er politisiert die ganz normale Pestvogeligkeit. Die Leistungsträger-Ideologie ist zunächst nichts weiter als die triviale Umkehrung der klassischen sozialdemokratischen Umverteilung als Kompromiss im Klassenkampf: So wie die Sozialdemokratie der Bourgeoisie mit einer kampfbereiten Arbeiterklasse drohen konnte, glaubt der Leistungsträger jetzt auf eine Klasse im Wartestand als Druckmittel verweisen zu können. Kriegt er sein Recht nicht, droht er mit Klassenkampf von rechts oben. Der schwarz-gelbe Wahlerfolg ist für ihn der unausgesprochene Beleg für dessen Durchsetzbarkeit.

Es geht hier nicht um die Selbstverständlichkeit, dass diese Ideen zurückzuweisen sind. Sie zu diskutieren, tut ihnen schon zu viel der Ehre an. Es geht darum, wie diese Erfindung sich in einem Jahr, in dem jeder und sein Schwager über die Langeweile des Wahlkampfes gegähnt hat und überall Verfall und Ende politischer Leidenschaft beklagt wurde, auf so breites Interesse und Zustimmung stoßen konnte. Analog zu August Bebels Diktum, dass der Antisemitismus der Sozialismus des dummen Kerls sei, kann man hier vielleicht von einem Neoliberalismus einer noch bornierteren Elite sprechen. So wie einst der antisemitische Kerl in seiner verkennenden Übersetzung des Klassenkampfs in Rassismus das zu komplexe und systemische linke Weltbild sich als unmittelbar anwendbares Ressentiment zurechtlegte, verhelfen heute diese neuen Leistungskerls der hierzulande von der Propaganda des Sachzwangs und der systemischen Komplexität verdeckten Ideologie der neoliberalen Jahrzehnte zu einer handgreiflichen Konkretheit als Kampfmittel: Was für ein geiles Umverteilungsprogramm nach oben wäre mit den Kategorien möglich, die doch ohnehin jeder Talkshowgast ständig anwendet! Der Vergleich hinkt nur in einem Punkt: Der dumme Kerl muss missverstehen, um handlungsfähig zu sein; der Leistungsträger hingegen muss die herrschenden Ideologie nur aus der Latenz zerren.

Die Beobachtung einer in der Mitte angekommenen ökonomischen Rechten bringt noch etwas anderes hervor und das ist die Erosion des verzweifelt angerufenen Leistungsbegriffs selbst. Schon eine Weile steht die von ihm beschworene Wirtschaftskraft nicht mehr alleine. Daneben sind weiche Skills, Sexyness, Attraktivität, ja auch eine gewisse multikulturelle Lebensart als Standortfaktoren und begehrte stimulanzindustrielle Produkte getreten, die von genau denjenigen ermöglicht, hervorgebracht werden, von denen die Leistungstypen behaupten, dass sie sie nur durchfüttern: Kulturtypen, Ausländer, Berliner.

Er will also nicht nur mehr Neoliberalismus durchsetzen, er will eigentlich einen ganz alten industriegesellschaftlichen Legitimationsdiskurs retten: die Leistung, an die speziell nach der Bankenkrise samt Boni-Debatte kein Mensch mehr glauben konnte. Sie wird eben auch von Professoren, Preisträgern und anderen traditionell Privilegierten gebraucht, die sich etwa von neoliberalen Besoldungsrichtlinien gewürgt fühlen. In ihrer Engführung des eigenen Immerschongewussten (Leistung) mit einer interessierten Zukunftsdeutung (neoliberale Gnadenlosigkeit als Pragmatismus) ähneln die Leistungsträger einem anderen neuen Kandidaten für politische Subjektivität in postpolitischen Zeiten: dem erlebnisorientierten Krawalljugendlichen, den legendenumrankten Autoabfacklern, Vertretern einer anderen neuen politischen Leidenschaft. Hier wird die als oppositionelles Motiv ebenso antiquierte Großstadtindianermentalität mit einem berechtigten, neuerdings mehrheitsfähigen zeitgenössischen Anliegen eng geführt, dem Kampf gegen Gentrifizierung.

Der Weg vom Hass auf das Finanzamt zu rechtsrevolutionären Gefühlen ist genau so kurz und emotional plausibel wie der von diffus linksradikalen Stimmungen zum konkreten Hass auf das auf die allerbanalste Weise seinen verantwortungslosen Machismo und dumpfen Distinktionscharakter in die Landschaft pflanzenden Scheißauto und den es fahrenden vermeintlichen Gentrifzierungsgewinnler. Doch die ganze Rhetorik der Hitze, des Brennens und der Intensität, die die Attentäter gegen die neoliberalen Autofahrerspießer entwickeln, ist zentraler Bestandteil der erlebnisorientierten Ökonomie, die die Städte in Theme-Parks verwandeln und den gut aussehenden, intensiv lebenden Hänger als Standortfaktor am liebsten einrahmen würde. Erlebnisträger und Leistungsjugendliche leben auf ähnliche Weise in einer Vergangenheit, die sie panisch an eine Zukunft ankoppeln wollen.

Uni und Marktregime

Gegenläufig verlief die Politisierung der Studierenden. Zwar war für den Erfolg der Bewegung bei all den „solidarischen“ Kommentatoren auch ein altes Feindbild mitverantwortlich: die Bürokraten in Brüssel. Gegen Überregulierung, so scheint es, ist jeder. Manche verstiegen sich zu der Diagnose, der Bologna-Prozess sei doch „sozialistisch“ oder „leninistisch“ und die Studierenden irrten gewaltig, so sie in ihm eine typisch neoliberale Regierungsform bekämpften.

Doch interessant am Studierendenprotest war, dass man diese Deutung nicht akzeptierte. Die Bildungsfabriken, zu denen die Hochschulen geworden sind, sind nämlich gerade keine Zeichen unzeitgemäß gewordener Disziplinierung in Zeiten von Deregulierung und individualisierten Konkurrenzkampf. Sie sind äußerst zeitgemäß und passen ebenso gut zum neoliberalen Marktregime wie die postfordistisch deregulierten Verhältnisse draußen in der freien Wirtschaft.

Dass dort jeder sehen muss, wo er bleibt in der Individualkonkurrenz, und die zu erbringende Leistung schon lange nicht mehr in der Anwendung vom Gelernten besteht (wie bei ihren vermeintlichen Trägern), sondern im Einsatz des ganzen Selbst in einer immer performativer werdenden Arbeitswelt, steht ebenso wenig im Widerspruch zur Disziplinierung des Wissens wie das dereguliert fließende Geld im Widerspruch zu den für Menschen undurchlässigen Mauern der Festung Europa.

In der Hochschule wie in der (Kultur-)Wirtschaft geht es darum, immer mikroskopischere, flüchtigere und kontingentere Teile menschlicher Produktion zu bewerten: In der Wirtschaft geraten Attraktivität, Stimulanz, körperliche Präsenz, Charme in das unmittelbare Einzugsgebiet der Wertschöpfung, in der Uni wird ein durchgeplantes Studium quasi Minute für Minute in ECTS-Punkte getauscht. Bürokratische Bewertung von reglementierter Lebenszeit und Ökonomisierung von Verhaltens- und Auftrittspartikeln gehören aber derselben Verwertungslogik an.

Neu ist allerdings vor allem, dass die studentischen Proteste, eine erste Gelegenheit nach vielen Jahren von nur noch punktuell und themenorientiert verlaufenen Politisierungen, wieder vielen die Gelegenheit gab, das eigene Schicksal nicht mehr als individuelles, sondern als ein gesellschaftliches, ja wenn man so will: klassenmäßiges zu erfahren – nicht als retroaktive Selbsttäuschung, sondern als realistische politische Erfahrung.

Eine Arbeitswelt, die nicht mehr von gemeinsam gemachten Erfahrungen von Ausschluss oder Disziplinierung erschlossen werden kann, sondern nur noch monadisiert erfahren wird, wird aber zusehends fabrikartiger in der Bildung vorbereitet – und lässt sich auch von daher politisch antizipieren.

In der Rebellion gegen diese Fabrik geht es also auch gegen die Bedingungen dieser zukünftigen Existenz als Stimulanzproduzent, als Standortfaktor und als prekäre Selbstverwerterin und -verwirklicherin, die man nur in ihrer Vorbereitung als kollektive Existenz noch erkennen kann. Natürlich besteht auch bei den Studierenden die Gefahr, sich von der ganzen Solidarität in den Kampf gegen ein altes Feindbild treiben zu lassen und bei antiautoritären Kämpfen gegen Hierarchien und böse Minister und Rektoren stehen zu bleiben, wo das eigentliche Problem eine Ökonomisierung ist, die nur auf die Universität die fatale Wirkung hat, umfassende Kontrollstrukturen zu errichten. Die Exzesse der Kontrolle gehören zur Verwertung des Unkontrollierbaren und seiner Produktion dazu: in jeder Fußgängerzone, bei jeder Schufa-Auskunft, in jedem Social Network.