: „Gegenwärtige Themen“
NS-GEDENKEN Ganz gestorben ist die Legende vom guten Gauleiter Kaufmann nie, sagt ein Historiker
■ 40, Historiker, ist seit 2010 Juniorprofessor für europäische Zeitgeschichte an der Universität Oldenburg.
taz: Herr Thiessen, was ist die „zweite Geschichte“ des Nationalsozialismus?
Malte Thiessen: Mit diesem Begriff will man zeigen, dass nicht nur die NS-Geschichte selbst Nachwirkungen hat, sondern auch die Auseinandersetzung damit seit inzwischen 70 Jahren. Denn sie sagt viel über die Verfasstheit einer Gesellschaft.
Über welche spezifisch hamburgischen NS-Legenden werden Sie heute sprechen?
Da gibt es einmal die Legende vom „guten Gauleiter“. Schon bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs kursierte die Vorstellung, dass Gauleiter Karl Kaufmann die Stadt zum Kriegsende gegen den Widerstand der NS-Führung zur Kapitulation gebracht und so vor der Zerstörung gerettet habe. Mit dieser schmückte sich die ganze Stadt, um zu zeigen, dass liberale, hanseatisch-vernünftige Traditionen auch in der NS-Zeit stark geblieben seien.
Und es gibt die Legende vom Feuersturm.
Ja, diese Legende von der Schicksalsgemeinschaft, vom Zusammenhalt im Feuersturm – die Bombennächte von 1943, die schwere Zerstörungen anrichteten und viele Leben kosteten – wurde schon von der NS-Propaganda zu einem Durchhalte-Mythos stilisiert und wirkte nach Kriegsende lange nach. Bis in die 1950er, 1960er-Jahre hinein.
Und heute?
Sie wirkt nach. 2013, zum 70. Jahrestag des Feuersturms, gab es Debatten darüber, ob in Deutschland die Bombenopfer jahrzehntelang tabuisiert worden seien und ob die Angriffe der Alliierten nicht Kriegsverbrechen gewesen seien. Da wurde die Legende von der Schicksalsgemeinschaft in den Bombennächten reaktiviert, weil sie die Sinnlosigkeit der Angriffe unterstrich.
Aber die Kaufmann-Legende ist nun wirklich passé.
Das ist nicht sicher. 1985 und 1995 war zum jeweiligen Jahrestag der Befreiung in Hamburgs Presse jedenfalls von „Kaufmanns Heldenstadt“ zu lesen.
Aber inzwischen sind alle Konflikte ums NS-Gedenken ausgestanden?
Das wird nie so sein, denn beim Gedenken werden immer gegenwärtige Themen auf Geschichte projiziert. 2005 etwa gab es erbitterte Debatten, weil Antifa-Initiativen sagten, mit ritualisiert-erstarrten Gedenkfeiern entledige man sich der Verantwortung und setze sich nicht mehr mit den Tätern auseinander. INTERVIEW: PS
Vortrag „Hamburgs ,zweite Geschichte‘ des Nationalsozialismus. Konjunkturen und Konflikte um die Erinnerung von 1945 bis heute“: 19.30 Uhr, Galerie Morgenland, Sillemstr. 79