ausgehen und rumstehen
: Das Jahr ist neu. Ansonsten bleibt erst mal alles beim Alten

Es ist Eiszeit, die schlimmste Zeit des Jahres. Die wesentlichen Feierlichkeiten sind passé, Karneval findet in diesen Breiten zum Glück nicht statt; ab jetzt ist Durchhaltevermögen angesagt. Januar und Februar sind zähe Monate, vom März aber sollte man sich in Berlin nicht zu viel versprechen und auch der April ist oftmals nicht viel mehr als eine Ahnung.

Blitzeis, kosmische Verdunkelung, Rauchverbot. Die Menschen staksen achtsam über die verdreckten oder glänzend glatten Gehsteige. Der gröbste Dreck wurde von der BSR entfernt, aber nicht überall. Gesundheitlich angeschlagene Raucher stehen frierend vor den Bars, die sie rausgeschickt haben; die anderen haben sich auf die wenigen Oasen des reinen Nikotinglücks verteilt. Ich will hier keine Namen nennen, aber es gibt da eine recht bekannte Bar am Kotti, eher schwul-lesbisch mit hoher Heterotoleranz, wo man einfach weiterrauchen kann, als ob nichts gewesen wäre. Und hinten im Graefekiez gibt es so eine winzige Kneipe für Leute mit Szeneanspruch, in der es sich auch so verhält. Und mein Lieblingscafé am Heinrichplatz ist auch so ein Ort, aber wer bin ich, hier den Namen meines Lieblingscafés auszuplaudern?

Nach einem faulen, späterhin ekstatischen Heimabend am Freitag wagen wir uns am Samstag auf die Straße. Frauen tragen Stadtpläne. Die Flusen, die Blutfäden. Der Fransenschnitt. Die Ankerklause am Kanal profitiert vom eigenen Grundriss; zwei Raucherräume ergeben sich wie von selbst. Im Schankraum ist die Luft relativ klar. Hier wird nicht geraucht. Auf Zetteln wird in feinstem Deutsch auf die Umstände hingewiesen. Von Ironie keine Spur. Wo einem die Aleviten einfallen, diese vollkommen unironische Religionsgemeinschaft, die wegen eines Fernsehformats auf die Straße geht! Zu 50.000 auf die Domplatte in meiner alten Heimatstadt. Leben in Technicolor. Das ist das neue Zeitalter. Auf die erste Demonstration, die sich gegen die Inhalte einer Webseite richtet, darf man gespannt sein.

Um mal was anderes zu sehen, wechseln wir in den Fuchsbau. Das ist eine neue Kaschemme am Planufer. Auch dort wird unverdrossen weitergepafft. Die Klientel indes ist massiver und jünger als in der Klause; es herrscht so eine Jugendclub-Atmosphäre, wie sie in den neuen Bars dieser Stadt gerade angesagt scheint. Null Deko, dafür unscheinbare Holztische, unscheinbare Holzstühle, und massenweise Twens, die Flickwerkreste untergegangener Subkulturen an sich tragen. Das Gebrabbel dieser Twens ist so laut, dass man von der Musik nichts mehr hört. Es geht ein bisschen zu wie im „Ä“ unten in Neukölln. Wir schauen uns das eine kurze Weile an, bis wir den erneuten Wechsel beschließen, zurück ins Gewohnte.

Heißt: Minibar. Hier trifft man die Bekanntschaft von letzter Nacht, hier ist man international. Laut labernde Schweizer, aufmerksam flüsternde Französinnen („Attention!“) und der übliche Rest. Der Wirt heißt Volker, eine Amerikanerin zahlt einen Deckel über 45 Euro, und wir träumen unseren Traum von der Finca. Bis zum Sommer sind es noch fünf Monate. Bis zur Finca sind es noch ungezählte Artikel, Heft- und Buchseiten. Im günstigen Fall Stipendien und Preise. Eine unverhoffte Erbschaft, ein Lottogewinn, eine reiche Ehefrau.

Um halb vier geht’s heim, aber in dieser dunklen Jahreszeit haben Uhrzeiten nur noch virtuellen Charakter. Draußen stolpern die Menschen weiter über glatte Oberflächen. Auf den Brillengläsern bilden sich Eiskristalle. Die Schwäne im Kanal träumen von Eisbrechern. Schön blöd, diese Tiere, denke ich auf der gut gestreuten Brücke. Haben Flügel, fliegen aber nicht. Das „Ganz wie du und ich“ erspare ich uns.

RENÉ HAMANN