: Von Herdentrieb und Abstellgleis
Poststelle (2): Zwei Schriftsteller schreiben einander Briefe. Heutzutage lese man Literatur allzu oft, wie man eine Vorabendserie konsumiere, beklagt Henning Ahrens: nämlich bloß eins zu eins. Jochen Missfeldt stößt sich an gefälschter Großpoesie auf Gartenbaumarkt-Abreißkalendern
HENNING AHRENS, Jahrgang 1964, lebt in Handorf, Niedersachsen. Sein letzter Roman „Tiertage“ erschien 2007.
DAS PRINZIP POSTSTELLE: „Hätten Sie Lust, für die taz in einen Briefwechsel zu treten?“, haben wir die Autoren Jochen Missfeldt und Henning Ahrens gefragt. „Als Kollegen sozusagen, und sich austauschen über die Bedingungen, Schwierigkeiten und Freuden des Lebens als Schriftsteller?“ Sie hatten. Was sie verbindet: Jochen Missfeldt und Henning Ahrens haben sich beide sowohl in der Lyrik als auch in der Prosa umgetan, beide leben im Norden – und dort auf dem Land. Was sie trennt: Eine Generation. Wie nah ihre Vorstellungen und Erfahrungen vom Leben als Schreibende im Übrigen sind, erfahren Sie in dem Briefwechsel der beiden, der seit Silvester 2007 in loser Folge an dieser Stelle erscheint. TAZ
Handorf, 3. 1. 2008
Lieber Jochen Missfeldt,
das Schnurren eines Katers ist nicht unbedingt inspirierend, aber beruhigend, und wie ich von meinen Söhnen höre, heilen sich Katzen damit selbst. Ob das auch für seelische Wunden gilt? (Tiere können ja durchaus neurotisch sein.)
Der Mensch ist in seelischer Hinsicht natürlich komplizierter: Empfindlichkeiten, Neid, Eitelkeiten usw., Gefühle, die am schlimmsten sind, wenn man nicht dazu steht. Einerseits schade, dass man im Laufe der Jahre durch viele, oft eher unangenehme Erfahrungen mit den Menschen seine Naivität und damit auch Vertrauen einbüßt. Andererseits gut, denn wer möchte noch einmal so blauäugig sein wie in jungen Jahren? Und dem Schreiben dürfte es guttun, wenn man in den einen oder anderen seelischen Abgrund geblickt hat.
Dickes Fell
Auf jeden Fall braucht man als Autor ein dickes Fell, weil das Produkt, das man mit Hilfe eines Verlags auf den Markt bringt, von jedem ins Kreuzfeuer der Kritik genommen wird, der irgendwann einmal ein Buch gelesen hat. Was ungeheuer lästig ist (ganz zu schweigen von der gelegentlichen Missgunst). Dann gibt es Menschen, die sich – auch dies in Verkennung der Realität, denn der Nimbus des „Dichters“ ist ja längst dahin – auf dem Umweg über ein Buch und seinen Autor wichtig machen möchten.
In meinem letzten Roman, „Tiertage“, wollte sich unbedingt eine Dame erkennen, obwohl sie keinesfalls darin vorkommt und obwohl das Buch zu dem Zeitpunkt, als sie zum Anwalt rannte, noch nicht einmal erschienen war. Sie kannte keine einzige Zeile, bildete sich aber ein, eine Rolle darin zu spielen – ein Maß an Dummheit, vor allem aber an Eitelkeit, das einem die Sprache verschlägt. Manche Menschen sind zu jeder Blödheit fähig, wenn es darum geht, sich aufzublasen. Schon vor Jahren sagte mir der Autor Perikles Monioudis, dass die Fähigkeit, literarische Texte auf einer symbolischen oder metaphorischen Ebene zu lesen, langsam schwinde, und inzwischen bin ich geneigt, ihm beizupflichten. Heute liest man Literatur oft, wie man eine Vorabendserie konsumiert, nämlich eins zu eins, und lässt die Komplexität, die dieses Medium auszeichnet, außer acht.
Herdentrieb
Das gilt sogar für Kritiker, wie bei der Rezeption von DBC Pierres „Bunny & Blair“ zu beobachten war, eines Romans, der auf einer symbolischen Ebene absolut schlüssig durchkomponiert ist. Doch diese Metaebene, die parallel zum Text mitgelesen werden muss, wurde von keinem Kritiker erkannt. Stattdessen trampelten alle, einem Herdentrieb folgend, auf dem Roman herum. Wo, fragt man sich da, bleiben der Mut und die Fähigkeit zur eigenen Meinung? Wie, fragt man sich da, soll die Kritik dem Leser angesichts dieser Blindheit und dieses Dünkels Literatur erschließen?
Aber kommen wir zu den von Ihnen geliebten Vögeln. In den Wiesen beobachte ich seit einiger Zeit Silberreiher, die viel weiter im Süden beheimatet sind. Dass sie hier auftauchen, dürfte ein Indiz für den Klimawandel sein. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich kein Vogelkenner, verbinde mit den Tieren aber viele Glückserlebnisse, vor allem, wenn sie unerwartet auftauchen – zum Beispiel eine Eule, die in der Dämmerung über den Hof segelt.
Sternschnuppen
Das gleiche gilt für Sternschnuppen, die man meist nur aus den Augenwinkeln sieht. Offenbar ist das Glück eine punktuelle Angelegenheit; da hilft es auch nichts, wenn das Recht darauf gesetzlich verbürgt ist.
Hier liegt Schnee (es gibt ihn also noch, den echten Winter), und ich muss meinen ältesten Sohn jetzt zum Lateinlernen anhalten. Schreiben Sie mir doch bitte über Ihren zuckenden Nerv. Denn der treibt uns an, oder?
Herzlich, Ihr HENNING AHRENS
Eduard-Tag, den 5. 1. 2008
Lieber Henning Ahrens,
vielen Dank für Ihre Post! „Tagtäglich soll ein Sprüchlein her, doch manchmal fällt das Dichten schwer.“ So schreibt Gärtner Pötschke heute auf dem Tagesblatt seines Abreißkalenders. Name des Tages: „Eduard“, den ich von den insgesamt drei angebotenen auswähle.
Falsches Wissen
Auch Wilhelm Busch ist auf diesem Blatt vertreten: „Doch nicht durch Worte ganz allein, / soll man dem andern nützlich sein.“ Auf der Rückseite druckt Gärtner Pötschke sechzehn Goethe-Verse; ich zitiere die letzten vier: „Zum neuen Jahre Glück und Heil, / für alte Wunden ne gute Salben, / auf grobem Klotz nen groben Keil, / auf einen Schelmen anderthalben.“ Da die Versanfänge von zwei bis drei nicht „groß“ anfangen, da auch Vers eins falsch mit „Zum“ statt mit „Im“ beginnt, da auch Vers zwo falsch zitiert wird und eigentlich heißt „Auf Weh’ und Wunden gute Salbe!“, und da es schließlich im Vers vier am Ende „anderthalbe“ statt „anderthalben“ heißen müsste, da könnte der Leser ausrasten wegen der Schlampigkeit, Frechheit und Ungenauigkeit, die sich Gärtner Pötschke hier leistet: Falsches Wissen unter das Volk der Garten- und Wald-und-Flur-Liebhaber bringen und es damit dumm und still halten.
Aber ich sage mir: immerhin Goethe in diesem Abreißkalender. Denn: Gibt es bei uns in Deutschland einen, der diesen Meister aller Klassen – Lyrik, Drama, Prosa – jemals übertroffen hätte? Ich besitze übrigens die wunderbare Goethe-Ausgabe des Hanser-Verlages; damit habe ich Gärtner Pötschkes Zitat überprüft.
JOCHEN MISSFELDT, Jahrgang 1941, lebt in Oeversee bei Flensburg. Sein jüngster Roman „Steilküste“ erschien 2005.
Diese kleine Alltagsgeschichte lässt mir im Augenblick den Nerv zucken, den Nerv, nach dem Sie mich fragen. Das gefälschte Kalenderblatt lieferte den Antrieb des Tages, und mein Nerv zuckte, weil ich das Kalenderblatt nicht in Ordnung fand. Die Suche nach der Ordnung kostete Zeit und ließ meinen Nerv extra stark zucken. Das falsche „Zum“ am Anfang der Goethe-Verse kostete zusätzliche Zeit. Es ließ mich vergeblich suchen im „Register sämtlicher Werke“, das alle Gedichtanfänge und Gedichtüberschriften alphabetisch notiert.
Hilfe brachte „Google“. Die Suchmaschine meldete mir das richtige Anfangswort, und schon fand ich im Register, was ich suchte: Band 9, Seite 121, da stehen die Verse unter „Sprichwörtlich“, und ich lege sie Ihnen, lieber Henning Ahrens, gern und sehr ans Herz, damit Sie das dicke Fell, das Sie im Augenblick gerade brauchen, auch richtig pflegen können. Die Dame, die Ihnen ohne Grund wegen der „Tiertage“ ans Fell will, steht juristisch schon jetzt auf dem Abstellgleis. Dort hat sie sich allerdings so ein Sprichwort wie das von Goethe verdient. Denken Sie sich also etwas Schönes aus!
Schon bin ich bei Ihrem heiß geliebten, schnurrenden Kater! Katerschnurren sei beruhigend, haben Sie geschrieben. Die Katze therapiert also den Katzenfreund, und sich selber macht sie damit gesund. Ganz klar: Auch Tiere haben eine Seele, auch Tiere können eine verletzte Seele haben. Wenn Schnurren da hilft, dann kann ich nur sagen: Hut ab vor der Natur! Irgendein zuckender Nerv regt sich wieder bei mir, denn Sie haben mich mit Ihrem Kater auf den Namen unseres Katers gebracht, den wir zu Hause in Böel (kleines Kirchdorf in Angeln) hatten. „Puni“ hieß der, warum, das weiß ich nicht. Sicherlich hatte meine Mutter ihn so getauft. Wenn Puni am warmen Kachelofen lag und schnurrte, dann brachte er also die eigene Kater-Seelenwelt – das weiß ich jetzt von Ihren Söhnen – in Ordnung, und meine Kinder-Seelenwelt brachte er gleich mit in Ordnung.
In Ordnung bringen
Was treibt einen Schriftsteller also an zu schreiben? Er will etwas in Ordnung bringen, und dafür muss er Form und Ausdruck finden. So will er die Liebe in Ordnung bringen wie den Hass, und den Tod will er zur Ordnung rufen, damit wir besser sterben können. Denn nichts, aber auch gar nichts ist in Ordnung, weder Krieg und Frieden noch Arm und Reich noch Krankheit und Gesundheit. Schwer in Ordnung allerdings sind die Goethe-Verse, die ich hier noch einmal richtig und in Ordnung gebracht zitiere: „Im Neuen Jahre Glück und Heil! / Auf Weh‘ und Wunden gute Salbe! / Auf groben Klotz, ein grober Keil! / Auf einen Schelmen, anderthalbe.“
Herzlich und mit den besten Wünschen: Ihr JOCHEN MISSFELDT