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Archiv-Artikel

Willkommen in der Wirklichkeit

Etwa zwölf Prozent der 13- bis 24-Jährigen haben Schulden – im Schnitt 1.800 Euro. Das Hamburger Rote Kreuz bietet jetzt den „schuldenpräventiven Workshop für benachteiligte Jugendliche“ an

Ein Mädchen spricht aus, was viele denken: „Ich wusste gar nicht, wie teuer das Leben ist“

VON ELKE SPANNER

Wie viel Geld eine Teilzeit-Verkäuferin in der Bäckerei verdient? „3.000 Euro“, ruft Aileen in den Raum. Die richtige Antwort lautet 800 Euro. Familie B., deren Lebensstil soeben besprochen wird, lebt somit ziemlich über ihre Verhältnisse. Sie muss sparen. Aber woran? Wohnung, Urlaub, Handy, Auto? Die Schüler blicken ratlos in die Runde. „Das braucht man doch alles“, sagt ein Junge, und es schwingt Trotz in seiner Stimme mit. Es ist die dritte Übung, die an diesem Morgen auf dem Programm steht.

Seit November bietet das Hamburger Rote Kreuz (DRK) Schulklassen den „schuldenpräventiven Workshop für benachteiligte Jugendliche“ an. Ziel ist, den Jugendlichen zu verdeutlichen, welche Verhaltensweisen erst zur Verschuldung, dann zur Überschuldung führen können. Der Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen hat herausgefunden, dass zwölf Prozent der 13- bis 24-Jährigen Schulden haben, im Schnitt 1.800 Euro. Meist borgen sie sich das Geld bei den Eltern, später aber auch bei Banken, die darauf Zinsen verlangen. Da ist zum Beispiel das Handy: Es gilt als Schuldenfalle Nr. 1. Die Altersgrenze für den Erwerb des ersten eigenen Mobiltelefons sinkt stetig, heute haben die meisten Jugendlichen ab der 5. Klasse ein Handy. Also steht im Workshop zunächst ein Überblick über die damit verbundenen Kosten auf dem Programm, über unterschiedliche Tarife, den Download von Klingeltönen und Spielen.

Nach dem Gespräch über das Fallbeispiel der Familie B. werden die Schüler noch einen „Finanzführerschein“-Test machen, aber so weit ist es noch nicht, denn die Frage nach den Sparmöglichkeiten ist noch immer nicht beantwortet. Stichwort Markenklamotten: Sind die wirklich wichtig? Wasma hat mehrere Geschwister, sie kennt das mit dem Sparen. „Für mich ist nur wichtig, wie die Klamotten aussehen“, sagt sie vernünftig. Und reizt Aileen, Einzelkind, zum Widerspruch: „Na aber bei kik muss ich auch nicht gerade kaufen“. Alles lacht, scheinbar erleichtert, dass jemand die eigenen Gedanken ausgesprochen hat.

Es reicht eben nicht aus, theoretisch zu wissen, dass es im Leben wichtigeres gibt als eine Levis-Jeans. Im Leben eines Jugendlichen können Markenklamotten entscheidend sein, denn das Äußere entscheidet mit darüber, wer dazu gehört. Deshalb halten die Schuldnerberaterinnen den Jugendlichen nicht einfach Referate, deren Inhalt schnell wieder vergessen wäre. Sie versuchen, ihnen über Spiele und Beispiele aus der eigenen Lebenswelt ein Bild davon zu vermitteln, wie teuer das Leben ist – und die eigenen Bedürfnisse zu hinterfragen. Zielgruppe sind in erster Linie die Schülerinnen und Schüler der Klassen 7 und 8 von Haupt- und Realschulen.

Die Schüler der 8. Klasse, die heute zu Besuch sind, sind über die einzelnen Stationen des finanziellen Abgrundes ganz gut informiert. Gerichtsvollzieher, Schufa – die Begriffe sind ihnen vertraut. Nur dass die auch mit dem eigenen Leben zu tun haben könnten, ahnen sie nicht. Was sie tun würden, wenn nach dem Schwarzfahren eine saftige Bußgeldforderung kommt? „Das kann nicht passieren, ich würde immer einen falschen Namen angeben“. Was, wenn die monatlichen Ausgaben das Taschengeld weit übersteigen? „Dann gehe ich zu meinem Vater, der gibt mir immer was“. Ein Junge antwortet auf die Frage gar, er würde einen Kredit aufnehmen. Karin Frey, DRK-Schuldnerberaterin, schüttelt den Kopf. „Zunächst solltest du mit dem Gläubiger Kontakt aufnehmen und eine Ratenzahlung vereinbaren“.

Zum Abschluss stellen alle Schüler zusammen eine Rechnung auf: Geschätzte monatliche Kosten für Essen, Wohnen, Unterhaltung, Urlaub. Zuvor haben sie sich darauf verständigt, dass man in einem durchschnittlichen Vollzeitjob um die 1.300 Euro netto monatlich verdient. Dann rechnen sie die einzelnen Posten zusammen, die über den Beamer an der Wand aufgelistet sind. Es herrscht Schweigen. 2.200 Euro Ausgaben im Monat sind herausgekommen. Ein Mädchen spricht aus, was viele denken: „Ich wusste gar nicht, wie teuer das Leben ist“.