: Hilfe für den Totengräber
Von zweien, die auszogen, den Mythos des Nationalen zu beerdigen: Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich sprach mit dem Dramatiker Heiner Müller über den Nibelungenmythos. 20 Jahre später wird ihr Gespräch zum Buch „Kinder der Nibelungen“
VON JÖRG SUNDERMEIER
1987 trafen sich Klaus Heinrich und Heiner Müller zu einem Gespräch über den Nibelungenmythos. 20 Jahre später, zum 80. Geburtstag von Heinrich, ist dieses Gespräch erstmals vollständig transkribiert erschienen, ergänzt um ein Gespräch mit Heinrich über Müller, unter dem Titel „Kinder der Nibelungen“. Der Herausgeber Günther Heeg stellte das Buch am Donnerstag gemeinsam mit dem Mitherausgeber und Verleger KD Wolff im Literaturforum Brecht vor. Klaus Heinrich selbst war infolge einer Erkrankung leider nicht da. Das gab KD Wolff die Gelegenheit, den Philosophen, ohne ihn zu beschämen, aufs Höchste loben und ihn gleich als einen der wichtigsten lebenden Philosophen zu bezeichnen.
Die Konstellation des Müller-Heinrich-Gespräches war insofern spannend gewesen, als die Nibelungen, wie Heeg ausführte, in den 80er-Jahren in Ost wie West noch einmal zu einem großen Thema geworden waren. Insbesondere die „aufgeklärte Linke“, wie Heeg formulierte, beschäftigte sich mit dem Mythos, brachte Nibelungenstücke auf die Bühne, fühlte sich ihm aber zugleich überlegen und sah sich selbst in klarer Distanz. Hatte etwa Hermann Göring die Schlacht um Stalingrad als Nibelungenkampf beschrieben, war 1945, so dachte man, diese Welt untergegangen, in der die Nibelungen noch Bedeutung hatten.
Heinrich und Müller dagegen wussten um die Anwesenheit des Mythos in der Gegenwart. Und um die Position der Schwäche, in die man sich begibt, wenn man das Fortwirken dieses nationalen Mythos leugne. Das alles ist, wie die DDR und die „ehemalige BRD“ (Heeg), so nicht mehr gegeben, und dennoch bleibt das Thema aktuell. Vor dem Hintergrund der Globalisierung wird die Nation, die eigentlich aufgelöst erscheint, als Mythos von „Fundamentalisten“ (Heeg) wiederbelebt – ein, laut Heinrich, „untotes“ Gebilde. Heeg erzählte, dass er den Gesprächstext zwei Studentinnen gab, die in den 80ern geboren wurden, und mit Freude sah, dass sie sich für das Gespräch begeistern konnten. Und wie die beiden erstaunt waren, dass Müller und Heinrich ganz offensichtlich Hegel, Hebbel oder auch Agnes Miegel auswendig zitieren konnten. So sei der Titel „Kinder der Nibelungen“ zustande gekommen.
Doch nicht nur in dieser Hinsicht war das Treffen spannend. Heinrich hatte Heiner Müller gegenüber Vorbehalte, sah ihn als Zyniker, hatte allerdings bislang eher wenig von Müller gelesen. Der Dramatiker dagegen hatte sich, so erzählte KD Wolff, jedes Buch von Heinrich, das im Stroemfeld Verlag erschienen war, sofort zuschicken lassen, er war also über dessen Denken im Bilde. Und mehr noch, im Gespräch schweigt Müller zumeist, überlässt Heinrich die Gesprächsführung und die Entwicklung der meisten Ideen. Fast darf man glauben, Müller habe sich in die Position des Schülers begeben.
Am Ende aber zieht Müller einen Schluss für sich, der ihn wieder in voller Stärke zeigt: „Es ist eine meiner Aufgaben, glaube ich, diese Nation zu beerdigen.“ Und Heinrich gibt schließlich seinen Widerstand auf, denn als Müller bittet: „Wenn Sie mir ab und zu einen neuen Spaten reichen würden für die Totengräberdienste“, antwortet Heinrich: „Herzlich gern. Das betrachte ich als meine Aufgabe.“
Von diesen Sätzen ausgehend, kam das zweite Gespräch aus dem Jahr 2002 mit Klaus Heinrich zustande, das im Buch dokumentiert ist. Peter Kammerer war hier Gesprächspartner, oder, besser gesagt, Stichwortgeber. Heinrich spricht nun gänzlich versöhnt mit dem Dramatiker, reflektiert das „Nibelungen“-Gespräch und sieht auch jetzt noch die Aufgabe, die Nation zu beerdigen, denn die „Untoten“, die, wie sie bei Müller heißen, „Gespenster“, müssen zurückgetrieben werden ins Grab.
Die Buchvorstellung geriet launig. Heeg fühlte sich im Brechthaus offensichtlich richtig am Platz, während KD Wolff zwar gelassen sprach, aber dabei seine bemerkenswert unruhigen Hände stets beschäftigen musste. Mit B.K. Tragelehn saß ein weiterer Wolff-Autor im Publikum, der dann auch noch ein Müller-Gedicht, das sich ebenfalls in dem Büchlein befindet, vortrug und dank seiner großen Kenntnis gewissermaßen Einblicke ins Heiner-Müller-Archiv gewährte. Leider mussten ein paar Heiner-Müller-Fans im Publikum sich etwas sehr spreizen, das Publikumsgespräch blieb dennoch spannend.
Und auf die Edition angesprochen konnte KD Wolff noch eine weitere schöne Anekdote erzählen. Er hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die immerhin Veranstalterin des Symposiums war, auf dem das zweite Heinrich-Gespräch geführt wurde, um Unterstützung angefragt und den Bescheid erhalten, dergleichen interessiere die RLS nicht mehr. Da, wo ein Lafontaine die Heinrich’schen „Untoten“ in die ehemalige PDS hineinhole, so Wolff, sei ein solches Gespräch, wie im Buch dokumentiert, offensichtlich nicht mehr erwünscht.
Günther Heeg, Stefan Schnabel und KD Wolff (Hrsg.): „Kinder der Nibelungen. Klaus Heinrich und Heiner Müller im Gespräch“. Stroemfeld Verlag, Frankfurt/Main, 2007. 88 Seiten, 10 €