: Wer Theater spielt, mordet nicht
Verschärfter Jugendstrafvollzug? Am Theater Bonn hat man einen anderen Vorschlag: Hier spielen Häftlinge der JVA Siegburg auf der Bühne ihren persönlichen „Abstiegskampf“. Bei der Premiere konnte sich auch Schirmherr Wolfgang Overath vom FC Köln von der positiven Dynamik überzeugen
VON DOROTHEA MARCUS
Stadionrauschen. Auf dem Theaterboden wachsen drei Quadratmeter echtes Gras, gegenüber dem Publikum sitzen Fußballfans auf einer Fototapete. Trainer, Assistent, Masseur und bis zu den Ohren tätowierte Auswechselspieler sitzen auf der Ersatzbank, zwei Aufpasser in Signalfarben patrouillieren wie Tiger hin und her.
Eine hoch symbolische zweite Halbzeit von genau 45 Minuten beginnt: Die Fantasiemannschaft „Siegburg“ befindet sich in einem Bundesliga-Abstiegskampf, der gewissermaßen auch für das Leben der Spieler gilt. Denn sie sind Jugendhäftlinge der JVA Siegburg, zwischen 19 und 22 Jahren alt, verknackt für Raub, Körperverletzung, versuchtem Totschlag. Dreißig Jahre Knast spielen hier Theater, hat die Bild-Zeitung ausgerechnet.
Die JVA Siegburg ist das Gefängnis, in dem der deutsche Jugendstrafvollzug im November 2006 seinen moralischen Super-GAU erlebte, als in einer Zelle ein jugendlicher Häftling von zwei Mitgefangenen zu Tode gefoltert wurde. Der Leiter der JVA wurde damals gefeuert, der Rücktritt der NRW-Justizministerin gefordert. Seitdem dürfen Zellen im Jugendstrafvollzug nicht mehr überbelegt werden. Der Mord scheint fast vergessen, zu einer Zeit, da sich Diskussionen um ein verschärftes Jugendstrafrecht bereits an Schlägereien in der U-Bahn entzünden.
Es wirkt also fast anachronistisch, wenn in ebenjener JVA Siegburg nun ein medienwirksames Theaterprojekt stattfindet, das allen populistischen Forderungen zu widersprechen scheint. Eine reine PR-Maßnahme ist es dennoch nicht – immerhin wurde es lange vor dem Mord von der Theaterpädagogin des Bonner Schauspiels, Marita Rangonese, und dem damaligen Leiter der JVA geplant.
Die Sprache des „Abstiegskampfs“ ist elliptisch, aber so ist es nun mal auf dem Feld. Deshalb hört es sich wohl auch so verblüffend professionell und natürlich an, wie die Schauspieler sprechen. Weil Tempo und Anschlüsse perfekt stimmen, entwickelt der Abend die Komik des Kabaretts. Die Handlung des Stücks von Jörg Menke Peitzmeyer ist schnell erzählt: Damit sie nicht absteigen, müssen fünf unerwartete Siege mit mindestens zwei Toren Unterschied zusammenkommen. Nervös lässt sich ein Manager in feinem Zwirn (Deniz Akad) vom dauerklingelnden Handy die Ergebnisse aus Bremen, Rostock und Bayern durchsagen.
Während ein Wunder nach dem anderen eintrifft, laufen auf der Bank selbstironische Eifersüchteleien um Frauen, Spieleinsätze und persönliche Ehrverletzungen – aber bei jeder neuen Nachricht fällt man sich doch wieder in die Arme.
Die Situationskomik entsteht, weil Klischees über Fußballspieler und Knackis gleichermaßen ausgestellt, bestätigt und widerlegt werden. Die Sprache kommt direkt aus dem Alltag und ist doch übertrieben: „Sieht hier irgendjemand einen Trainer“?, „Noch ein Wort, und du kriegst was aufs Maul“ – „Beamtenbeleidigung!“ Davon, dass sie Häftlinge sind, merkt man den zehn coolen, gutaussehenden jungen Männer, die sichtlich konzentriert, ehrgeizig und stolz sind, auf der Bühne nichts an. Fast ein halbes Jahr lang haben sie geprobt, mancher ist dabei abgesprungen, andere, zum Beispiel Pierre, wollte nach ein paar Wochen unbedingt eine größere Rolle mit mehr Text. „Zuerst fand ich’s eher komisch. Mittlerweile find ich’s richtig gut“, sagt Jimmy, „wir sind total zusammengewachsen als Gruppe.“
Die Schirmherrschaft hat Wolfgang Overath, Präsident des FC Köln, der in Siegburg lebt, übernommen. Er ist auch zur Premiere gekommen, hat FC-Schals und ein signiertes Mannschaftstrikot mitgebracht. Die Sicherheitsvorkehrungen sind locker. Diskret sind vier Vollzugsbeamte bei der Premierenfeier in der Theaterkantine verteilt, bei der es für alle alkoholfreies Bier gibt.
„Zu oft können wir so ein riesiges Projekt nicht machen“, sagt der heutige Vorzeige-Leiter der JVA, Wolfgang Klein. Es bedeutet viel Aufwand und Geld, Extrabeamte und Wagen abzustellen, in denen sie zu den Endproben gefahren wurden. Aber er glaubt, dass die Zusammenarbeit mit dem Theater Bonn auch der Theaterarbeit im Gefängnis Auftrieb geben wird. „Die haben wenig Selbstbewusstsein“, sagt er, „das hat ihnen zum ersten Mal gezeigt, dass sie etwas durchziehen können.“
Klein könnte sich vorstellen, dass es zu dem Mord 2006 nicht gekommen wäre, wenn die Täter in so einem Theaterprojekt gewesen wären. Auch sie wären bald frei gewesen. „Das war eine schlimme negative Dynamik“, sagt er, „hier sieht man, wie leicht auch positive Dynamik entstehen kann.“