: Zeit für Gerechtigkeit
In seinem famosen neuen Buch hofft der US-Starökonom Paul Krugman, dass nach dem Debakel der Neokonservativen ein neues progressives Zeitalter anbricht
VON ROBERT MISIK
Die Ansicht hat sich längst über den Kreis eingefleischter Marktwirtschaftsdogmatiker hinaus durchgesetzt: Ökonomie ist etwas, was seine eigenen Betriebsgeheimnisse hat. Wachstum, technologischer und sozialer Wandel, Einkommenskurven und all dieses Zeug hängen von einer Reihe von Faktoren ab, aber kaum von der Politik. Sie könne zwar da und dort abfedern, am besten sei es aber, sie versuche, so wenig Unheil als möglich anzurichten. Noch der Erfolg der neoliberalen Doktrin wird aus dieser Perspektive eher als Symptom und Resultat ökonomischen und sozialen Wandels aufgefasst als umgekehrt der ökonomische Wandel als Resultat der neoliberalen Doktrin.
Paul Krugman, einer der brillantesten und eloquentesten Ökonomen unserer Zeit, plädiert jetzt in seinem neuen Buch mit viel Verve für einen Perspektivenwechsel. It's politics, stupid!, so könnte man das Motto seiner Streitschrift „Nach Bush“ zusammenfassen. Krugman wirft sich ins Zeug, um einen neuen „New Deal“ für Amerika zu begründen, und seine Hoffnung ruht darauf, dass die Demokraten wieder politischer werden und liberalism rehabilitieren. Aber Krugmans Buch ist auch eine Wirtschaftsgeschichte Amerikas und zeichnet nach, wie, ja, „Klassenkampf“ heutzutage läuft. Und das macht das Buch spannend.
In der modernen amerikanischen Geschichte gab es, so Krugman, „zwei große Bögen – einen wirtschaftlichen Bogen von großer Ungleichheit zu relativer Gleichheit und zurück und einen politischen Bogen von extremer Polarisierung zur Zusammenarbeit beider Parteien und wieder zurück“. Der Commonsense ging davon aus, dass der Raubtierkapitalismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit wachsendem Reifegrad nach Stabilisierung verlangte und eine homogenisierte, fordistische Arbeiterklasse hervorbrachte. Institutionen des Wohlfahrtsstaats, wie sie im New Deal unter Präsident Roosevelt eingeführt wurden, waren gewissermaßen eine „natürliche“ Folge. Somit wurde die Gesellschaft egalitärer. Seit den 70er-Jahren wurde sie wieder ungleicher, was primär der Verwandlung des formierten Kapitalismus in eine digitalisierte, dezentralisierte Ökonomie zugeschrieben wird.
Dieser Ansicht habe er selbst angehangen, schreibt Krugman. Aber alle Fakten und Evidenzen sprächen dagegen: „Mittelschichtgesellschaften entstehen nicht von selbst mit der Reifung einer Volkswirtschaft, sondern müssen durch politisches Handeln geschaffen werden.“ Es war nicht die „kapitalistische Entwicklung“, es waren Liberale, die es schafften, „die Ungleichheit der Einkommen erheblich zu verringern, mit fast ausschließlich positiven Auswirkungen auf die Wirtschaft insgesamt“. Sie handelten entschlossen und konnten die konservativen Kräfte so besiegen. An diesen Männern und Frauen sollten sich „die Liberalen von heute ein Beispiel nehmen, wenn sie lernen wollen, was politische Führung zu bewirken vermag“.
Dass das egalitäre Amerika seit den Siebzigerjahren zerstört wurde, geht seinerseits, so Krugman, auf eine ideologische Strategie zurück, die die Strömung der „Neokonservativen“ seit den Sechzigerjahren verfolgte. Doch jetzt gebe es eine Chance, dass die lange, säkulare Tendenz wieder in die andere Richtung geht. Weil die Neokonservativen abgewirtschaftet haben.
Aber soll es überhaupt in eine andere Richtung gehen? Ist mehr Ungleichheit nicht der Preis, der für Innovation und Fortschritt zu bezahlen ist? Krugman, neben dem Nobelpreisträger Joseph Stiglitz der wohl einflussreichste Keynesianer unserer Zeit, unterstreicht mit Überzeugungskraft, dass egalitärere Gesellschaften nicht nur gerechter, sondern auch leistungsfähiger sind als ungleichere. Die Zeit, in der auch in den USA ein wohlfahrtsstaalicher Konsens herrschte, war nicht nur durch die Entstehung eines breiten, stabilen Mittelstands gekennzeichnet, sondern auch durch bisher unbekannte Wohlstandsgewinne. Allerdings wurden die Reichen wirklich ärmer, während die Unter- und Mittelschichten gewannen.
Wenn aber die große Mehrheit der Amerikaner vom New Deal profitierte, wie konnte es dann gelingen, den wohlfahrtsstaatlichen Konsens zu zerstören? Krugmans lapidare, aber überzeugend dargelegte Antwort: wegen der Zwietracht zwischen den Rassen. Die New-Deal-Koalition ist zerbrochen, weil sich die Demokraten auf die Seite der Bürgerrechtsbewegung gestellt haben. Das brachte selbst ärmere weiße Amerikaner in den Südstaaten dazu, für die Republikaner zu stimmen – und damit gegen ihre ökonomischen Interessen. Auch die Frontleute der Neokonservativen haben die „getrübten Rassenbeziehungen“ weidlich ausgenutzt. Gelingt es, den Eindruck zu erwecken, die Profiteure des Sozialstaats seien die ethnisch Anderen, dann wird das Band des sozialpolitischen Konsenses mürbe.
Wegen des Rassismus ist der Aufbau eines voll entwickelten Sozialstaats in den USA stecken geblieben – vor allem an einer allgemeinen Krankenversicherung mangelt es, weshalb Krugman sich auch für eine Gesundheitsreform starkmacht.
Sein Buch ist ein bemerkenswertes Plädoyer für eine Gesellschaft, in der alle einigermaßen gleiche Lebenschancen haben, und gegen die „The winner takes it all“-Mentalität. Wahrscheinlich gibt es kaum einen anderen Ökonomen auf der Welt, der mit so viel Sachverstand und schriftstellerischem Witz zugleich die Sache des Egalitarismus zu vertreten vermag. Krugman, Autor einer in der New York Times regelmäßig erscheinenden Kolumne, gilt nicht zu Unrecht als der „Superstar“ der Keynesianer. Dass er die Dinge manchmal etwas vereinfacht, kann man ihm nicht vorhalten. Er ist Akteur in einer Konfliktkonstellation, und die Neokonservativen haben vorgemacht, wie man ideologische Kämpfe gewinnt.
Paul Krugman: „Nach Bush. Das Ende der Neokonservativen und die Stunde der Demokraten“. Aus dem Englischen von Friedrich Griese. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008, 320 Seiten, 24,90 Euro