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Archiv-Artikel

Im Prinzessinnenfummel

Sie wollten schon immer mal jemand sein, der Sie leider nicht sind? Dann fahren Sie bitte umgehend zum Karneval nach Köln

VON JUDITH LUIG

Einmol Prinz zo sin en Kölle am Rhing

en nem Dreijesteen voll Sunnesching.

Dovun han ich schon als kleine Fetz jedräump.

Einmol Prinz zo sin, sünz häs de jet versäump. Wicky Junggeburth

Wenn der Mensch sechs Tage lang nicht mehr von dem bestimmt ist, was ist, sondern von dem, was sein soll, dann ist Karneval: das Fest der Subversion. „Für kurze Zeit“, so schreibt der Kulturtheoretiker Michail Bachtin, „tritt das Leben aus seiner üblichen, gesetzlich festgelegten und geheiligten Bahn und betritt den Bereich der utopischen Freiheit.“ Die Erlösung von der Realität ist wie ein Schlag. Auch wenn die Feiertage fest im Kalender eingetragen sind, so ist die Metamorphose von Alltag zu Utopie auf den Kölner Straßen doch in ihrer Absolutheit jedes Mal wieder überraschend.

Gestern war noch Mittwoch. Die Sehnsucht nach dem, was man gerne wäre, noch im Wandschrank versteckt, aufs Hobby beschränkt, auf das Wochenende, oder vielleicht auch nur auf eine etwas auffällige Glitzerspange im Haar. Aber heute ist Donnerstag und man schreitet stolz im rosa Prinzessinnenfummel, gekrönt von einem funkelnden Diadem, durch die Massen von maskierten Irren über den roten Teppich von Bierflaschen und Kamellen, die bereits auf der Hohen Straße kleben. Schaut nur alle hin! Heute ist Karneval und ich bin eine Prinzessin! Weil ich das will.

Wer kein Karnevalist ist, findet es lächerlich, dass sich die übergewichtige Bankangestellte in ein billiges Carmenkostüm zwängt, nur weil Weiberfastnacht ist. Der kann es nicht verstehen, dass man sich in brechend vollen Kneipen mit brechend vollen Menschen in den Armen liegt und sich schwört, dass „unser Veedel“, wo auch immer das nun genau sein mag, auf jeden Fall das allerschönste auf der Welt ist und dass man auch immer auf die „Pänz“ des anderen aufpassen wolle. Wer der strengen sechstägigen Liturgie folgt, der vergisst irgendwann, dass seine erste Freundin nicht das „Meiers Kätsche“ war, dass man gar nicht im Roxy Kinosaal zum ersten Mal geknutscht hat, und dass man, wenn man ehrlich ist, eigentlich überhaupt nicht so genau weiß, wo die Kaygasse Nummer null bitte schön sein soll, obwohl man da, laut Liedgut, zur Schule gegangen ist. An Karneval ist eben irgendwie alles egal.

Ein Zwang zum Lustigsein herrsche dort, sagen die Nörgler über Karneval. Nur etwas für angepasste Spießer. Dabei ist es doch gerade mutig, seine Sehnsucht für alle sichtbar zu machen. Der hochgeknotete Busen und die angeklebten Wimpern von Carmen alias Nicole Schmitz schreien es deutlich vernehmbar raus: So bin ich nicht, aber so möchte ich gerne sein. So geht man paradoxerweise gerade in der unpassendsten Verwandlung am ehrlichsten mit seiner Sehnsucht um: Je unwahrscheinlicher die Metamorphose von „ett Niccol“ zu Carmen ist, desto stärker drückt sich durch die Verkleidung das unstillbare Verlangen aus.

Die Verkleidung offenbart den heißen Wunsch, dass sich das Innere dem Äußeren anpassen möge und dass das Äußere wiederum das Innere beeinflusse werde. Die Verkleidung bestimmt die Realität und nicht die Realität die Verkleidung. Dabei ist das Karnevalskleid wie das Brautkleid. Jeder weiß, dass der Körper darin weder der einer Prinzessin noch der einer Jungfrau ist. Doch jeder kann durch das Kleid erkennen, dass die Trägerin gerade diese Illusion sehr gerne erwecken möchte. Und wenn alle das Spiel mitspielen, ist man stärker als die bisher dargestellte Wirklichkeit. Deswegen ist im Karneval auch die Masse so wichtig. Die Verwandlung braucht Mittäter und Zeugen, Menschen, die das neue Selbst spiegeln, indem sie auf die veränderte Realität reagieren. Vor einer Prinzessin muss man einen Hofknicks machen, sonst nützt der ganze Plunder nichts. Die Verwandlung braucht aber auch das Ritual, das alle kennen, damit der Zauber funktioniert.

Die pummelige Siebenjährige hält sich noch an einem Märchenbild fest, das man ihr zu bewundern beigebracht hat. Genauso klammern sich Supermarkt-Azubi wie BWL-Student gerne an Bilder starker Männlichkeit: James Bond, Cowboy, Scheich. So ganz trauen sie ihren eigenen Sehnsüchten noch nicht, als dass sie sich von Vorgefertigtem lösen könnten. Doch eigentlich hat der Karneval die Fließbandmaske gar nicht nötig. Wer schon souverän mit seinen Sehnsüchten umgehen kann, der wird auch in der Kostümierung mutiger. „Gerade der ephemere Charakter der karnevalistischen Freiheit“, schreibt Bachtin, „schärft die fantastische Radikalität der aus der Atmosphäre des Festlichen heraus entstehenden Gestalten.“ So lebt der Karneval besonders in der Groteske. In dem totalen Zersprengen einheitlicher Bilder und Ideale, die sich in den tausenden dadaistischen Kostümen ausdrücken, mit denen die Gestalten dieser Tage durch Köln geistern.

Der Karneval Venedigs ist durch das Versteckspiel mit geheimnisvollen Masken und den weiten Roben bestimmt, der Kölner Karneval hingegen ist exhibitionistisch. Man möchte nicht untergehen in der Masse, man möchte zwar in die Welle eintauchen, aber dabei auffallen. Die Menschen kleben sich Teesiebe auf die Augen, tragen Gießkannen auf dem Kopf oder stecken sich in selbst gebastelte orange Ganzkörperwürste, damit sie wie eine Möhre aussehen. Man dekoriert sich willenlos mit allem, was man im Haushalt so auftreiben kann. Man will die anderen provozieren, über einen zu lachen, und man will mit seinem Kostüm selbst über den Anpassungsdrang und Normierungswahn lachen. „Lachen ist der Sieg über die Furcht“, sagt Bachtin. „über die moralische Furcht, die das Bewusstsein knechtet, bedrückt und dumpf macht“ sowie „über die Furcht vor dem Verbotenen“. Wer lacht, hellt sein Bewusstsein auf und eröffnet sich die Welt neu. Während Bachtin im Karnevalesken politische Dimensionen sieht, erklärt der Theologe Florens Christian Rang das karnevalistische Lachen zu einer Rebellion gegen Gott. Das Lachen ist ein Lachen der Verzweiflung über einen Heiland, der einen nicht erlöst hat. Diese dämonische Dimension des Karnevals ist manchmal noch in den exzessiven Feiern, in dem rastlosen Durch-die-Stadt-Ziehen zu spüren. Ein bisschen Verzweiflung und ein bisschen Melancholie stecken in der bunten Aufmachung. Aber über die tröstet man sich schnell mit einem anderen Jeck hinweg.

Dementsprechend ist Karneval ein Spannungsfeld, erklärt der Pädagoge Wolfgang Oelsner in seinem Buch „Fest der Sehnsüchte“. Er besteht aus Gegensatzpaaren: Trieb und Kontrolle, Individualität und Abhängigkeit, Natur und Kultur. Der Mensch lebt mit dem Paradox, sich beides zu wünschen: ewiger Wechsel und das ewig Gleiche. Mit seinen Ritualen und seinen Verkleidungen kommen im Karneval diese Gegensätze zusammen. Der Narr ist somit auch nicht jemand, der sich eine Auszeit von seinem Alltag nimmt. Der Narrenforscher Theo Fransen sagt, das Kostüm verberge nicht jemanden, der sich verleugnen will. Der Jeck ist jemand, „der seine Identität optimiert“.

Karneval ist das Spiel der Gegensätze. Auf der einen Seite steht die teilweise sich fast überschlagende Exzentrik der Masken, die exponierte Individualität, auf der anderen Seite die Sehnsucht nach rauschartiger Auflösung in der Masse. Auch hier spielt das Performative eine Rolle: In Sing- und Saufritualen beschwören die Karnevalisten eine neue Welt herauf.

Köln ist im Karneval eine einzige große Selbstinszenierung. Eines der häufigsten Kostüme, die man auf den Straßen sieht, ist das Kölner Wappen. Mit unterschiedlichsten Methoden – drei Krönchen auf dem Kopf oder ins Gesicht gemalt, die elf Flammen aus Stoff auf die Brust gestickt – verwandeln sich die Jecken so selbst in das Symbol der Stadt, die sie in heiserem Chor beschwören.

Köln wird dabei zur Projektionsfläche aller Sehnsüchte. Die Stadt wird zur liebenden Frau in allen ihren Erscheinungsformen: „Du bist eine Jungfrau und ein altes Weib, du bist unsere Mutter und bleibst ewig schön“ – singen die Bläck Fööss (natürlich auf Kölsch). Im Karnevalslied ist Köln Utopia. Kölner ist eigentlich nur, wer Migrant ist, da ist es egal ob aus dem antiken Rom oder vom Bosporus.

Je länger der Karneval dauert, desto anarchischer wird er jedoch. Donnerstag um Punkt elf Uhr elf steht man noch als schmucke Prinzessin vor der Severinstorburg, aber schon ein paar Stunden später tauscht man mit einem schwulen Cowboy, mit dem man zu „Oh, oh, Kathrin“ getanzt hat, seine Knarre gegen deinen Zauberstab, im Ferkulum vergisst man das Diadem, findet aber wenig später auf dem Boden von Haus Müller eine – leider bereits leicht angesiffte – Hawaiblumenkette, mit der man sich dann krönt. Karneval ist ein großzügiges ewiges Tauschgeschäft mit allem, was man so hat. Das kann man fies finden, aber dann ist man selber schuld.

JUDITH LUIG, Jahrgang 1974, ist taz.mag-Redakteurin und über Karneval nicht erreichbar, da in Köln. Sie wollte als Amy Winehouse gehen, wird aber nun die Tosca geben