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Archiv-Artikel

Die Wildwest-Bindung Deutschlands

10.000 Besucher, 100 Bands, Tanzperformer aus ganz Europa, den USA und Australien: Am Wochenende konnte man ein eigenes Paralleluniversum bestaunen: Im Postbahnhof fand die 13. Berliner Countrymusic-Messe statt. Eine seltsame Kultur und eine Herz-Schmerz-Lifestyle-Angelegenheit

VON HEINRICH DUBEL

Die Filmfestspiele sind nicht die einzige bizarre Parallelwelt, die sich dem eventgestählten Berliner in diesen Tagen eröffnet. Am vergangenen Wochenende konnte man am Ostbahnhof ein buntes Völkchen von Hardcore-Freizeit-Parallelweltlern bestaunen: prächtig herausgeputzte Saloongirls und Calamity Janes, Offiziere der Nord- und Südstaatenarmeen des amerikanischen Bürgerkriegs, Waldläufer und Fallensteller, Riverboat-Kartenhaie und selbstverständlich jede Menge Cowgirls und Cowboys.

Dieses bunte Volk drängte sich erstmals nicht durch die niedrigen Gänge des fernen Theodor-Fontane-Baus in Reinickendorf, sondern stauten sich auf zwei Etagen in den Veranstaltungshallen des Postbahnhofs, wo die 13. Berliner Countrymusic-Messe in diesem Jahr stattfand, nachdem das Fontane-Haus die feuerpolizeilichen Auflagen nicht mehr erfüllen konnte.

Die Messe ist mit gleich zwei Eintragungen im Guinessbuch der Rekorde (größte Messe und höchste Zahl von Linedancern in einer Session) alles andere als ein Dorfkarneval. Etwa 10.000 Besucher in drei Tagen, hundert Bands, Solokünstler, Tanz- und Showperformer aus fast ganz Europa, den USA und Australien reisten an. Die meisten Bands und Besucher kommen allerdings aus Deutschland, dessen Wildwest-Bindung seit Generationen stark ist und meist im Kindesalter auftritt. Karl May, Bonanza, Spaghettiwestern und John-Wayne-Filme schaffen eine Ami-Kultur-Akzeptanz, an der auch ein Irakkrieg nichts ändern kann.

Als Westberliner hatte man ja eh ein besonderes Verhältnis zur Schutzmacht Nummer eins. Auch die offizielle DDR-Kultur nahm sich der Thematik an, war die Geschichte des Wilden Westens neben einer von fortschrittsgläubigen Individuen in der Unbegrenztheit ihrer Möglichkeiten doch auch eine von Arbeiter-und-Bauern-Heeren, deren einst gelobtes, besitzrechtlich aber immer enger werdendes Land bald Indianermassenmördern und Großindustriellen anheimfiel. In der DDR gab es mehr Indianervereine als im Westen, den Kölner Raum mal ausgenommen. Zum Kampf gegen den Hauptklassenfeind gehörte dessen eigene Musik – neben Amiga-Pressungen klassischer Nashvilletitel oder Linker wie Joan Baez auch der US-Import Dean Reed, ein lonesome guitarman, der ein einsames Ende in einem Brandenburger See fand.

Die in den USA seit etlichen Jahrzehnten erfolgreichste Sparte der Populärmusik (Garth Brooks hat mit 100 Millionen Alben mehr verkauft als etwa Frank Sinatra, Bruce Springsteen oder Michael Jackson) ist in Europa längst der Nische entwachsen. Balladen der Kanadierin Shania Twain oder die Erwachsene-Frauen-Musik der Dixie Chicks laufen auch im deutschen Musikfernsehen mit. Um solchen milliardenschweren Neo-Country geht es bei der Berliner CMM allerdings nicht, obwohl auch hier die Dixie Chicks gecovert werden. Die Musik ist selbstgemacht, solider Mittelbau. Zwischen den Veranstaltungszentren wie der Westernstadt Pullman-City im Ostharz und den angereisten Musikern werden Verhandlungen über die Gigs des kommenden Jahres geführt.

Countrymusik ist eine widersprüchliche Sache. Die meisten Menschen lehnen sie spontan und heftig ab. Wo sie aber gehört wird, kann gleichwohl Musikantenstadl oder Szeneladen sein. In Berlin zeigt nicht nur ein ausgewiesener Avantgardist wie Alex Hacke, der seit Jahren nicht ohne Cowboyhut aus dem Haus geht, Affinitäten zur Countrymusik. Mit dem Bassyclub etwa und Aktivisten wie der DJane und Veranstalterin Maya Lansky, dem White Trash und der Wildwest-Strandbar des Texaners Wally Potts weist die Hauptstadt eine stete Unterströmung auf, die sich mit erfolgreichen Formationen wie jüngst den Boss Hoss immer wieder erneuert.

Jenseits dieser urbanen Rezeption, die sich an Country-Klassik orientiert und in Crossover-Produktionen ergießt, ist die Szene eine Herz-Schmerz-Lifestyle-Angelegenheit, eine Realitätsflucht, ein paradoxes Zusammengehen von Rebellentum und Konformität, eine Sache von Kleinbürgern und Mittelständlern, von denen viele das gelobte Land, die USA, nie gesehen haben und nichts über die Verhältnisse dort wissen.

Das gilt auch für das europäische Ausland, mit Ausnahme Russlands, wo neuerdings und besonders in Moskau Live-Country-Musik schwer angesagt ist, allerdings im Kontext von „Veranstaltungen mit Pferden, die von reichen Leuten besucht werden“, wie Julia Juice (bürgerlich Julia Andreeva) berichtet, die in Sibirien geboren wurde, in Moskau Wirtschaftswissenschaften studierte und jetzt mit ihrer Band, den Crazy Lemons, in Berlin einen Messestand unterhielt. „Wir singen Lieder in verschiedenen Sprachen“, sagt Julia, „damit die Menschen uns verstehen. Wir glauben aufrichtig, dass unsere Musik Wärme und Güte in die Herzen bringt.“ Weit ist sie gekommen, die Gebrauchsmusik der armen weißen Südstaatler.