Glücklichsein auf Rezept

Vom Leben mit dem dunklen Geheimnis: Dirk Wittenborn mixt in seinem Roman „Casper“ die Genres und erzählt von der Geburtsstunde der Psychopharmaka in den USA der 50er-Jahre

VON AXEL WALDAU

Ich bin auf der Welt, weil jemand meinen Vater töten wollte.“ Schon der erste Satz bringt das Dilemma von Zach Friedrich auf den Punkt. Eine Familientragödie überschattet die Umstände seiner Geburt. Schlimmer noch, es handelt sich um ein Familiengeheimnis, von dem Zach nur Puzzleteile kennt.

Rückblende: Anfang der 50er macht sich Zachs Vater, schlecht bezahlter Assistenzprofessor für Psychologie in Yale, an die Erforschung einer tropischen Heilpflanze, der er gemütsaufhellende Wirkung zuschreibt. Depressive Freiwillige für eine Versuchsreihe finden sich genug, darunter auch der geniale, aber sozial inkompetente Erstsemestler Casper Gedsic (get sick!). Die Droge verwandelt den stotternden Antihelden in einen wortgewandten „Everybody’s Darling“. Doch als die Studie beendet wird, dreht Casper plötzlich durch. Friedrichs Forschungspartnerin und sein Lieblingssohn Jack kommen ums Leben. Casper landet in der Sicherheitsverwahrung einer Irrenanstalt.

All das wird rasant auf 170 Seiten wiedergegeben, doch mit Caspers Festnahme und dem plötzlichen Auftreten des nach der Tragödie geborenen Sohnes Zach als Erzählinstanz kommt die gut geölte Erzählmaschinerie ins Stottern. Das Tempo verringert sich erheblich, und für einen Moment ist man geneigt, das Buch zur Seite zu legen. Man ist gut beraten, es nicht zu tun. Denn Wittenborns Erzählkonstruktion ist geschickt gewählt und verschafft dem Leser einen Informationsvorsprung gegenüber dem noch jungen Zach. Wie ein gut unterrichteter Therapeut liest man fortan vom Auf und Ab in Jacks Entwicklung und stellt mit diebischer Freude selbst Diagnosen. Auch auf der Spannungsebene gewinnt der Roman wieder an Fahrt. Denn ist ein Irrer mit einem IQ von 173 in einer Heilanstalt für geistesgestörte Straftäter sicher weggeschlossen? Casper bleibt das Schreckgespenst der Familie Friedrich.

Man kommt nicht umhin, „Casper“ mit den in den letzten Jahren so populären amerikanischen Gesellschaftspanoramen zu vergleichen. Zu deutlich sind die Parallelen zu den Büchern von Jonathan Franzen, John Updike oder Richard Ford. Sie alle kommen als Familienromane daher, in ihrem Kern aber sind sie zumeist Antifamilienromane. Auch Wittenborn erzählt vom Alltag einer schrägen, aber durchaus liebenswürdigen Familie, die atemlos den amerikanischen Traum verfolgt, um schließlich feststellen zu müssen, dass Arrivieren keineswegs glücklich macht. Auch hier werden wir zum obligatorischen Thanksgiving-Dinner geladen, schließen Bekanntschaft mit mindestens einem schwulen Sohn oder einer lesbischen Tochter, die – genau wie ihre Geschwister – ihr eigenes Leben noch konsequenter vermasseln, als ihre Eltern es je getan haben.

Und doch ist „Casper“ kein klassischer Familien- und Gesellschaftsroman amerikanischer Prägung. Zum einen greift der Autor tief in die Trickkiste der Genres und lässt mit sicherer Hand Elemente von Campusroman, Thriller und „Coming-of-Age“ einfließen. Zum anderen fehlen „Casper“ jegliche Bitterkeit oder ausweglose Verzweiflung. Zwar ist auch für Zachs Vater „das Unglücklichsein der natürliche Zustand des Menschen“, doch sucht er immer wieder nach Auswegen aus dieser Falle der Natur. Ganz ohne Zynismus nimmt Wittenborn seine Figuren auch in den absurdesten Momenten ernst und gibt sie trotz seines sprühenden Witzes nicht der Lächerlichkeit preis.

Mit Pointen zu jonglieren hat Wittenborn als Sketchschreiber für die TV-Comedy-Show „Saturday Night Live“ gelernt. Es folgten eine kurze Karriere als Schriftsteller und eine längere Karriere als dauerkoksender Paradiesvogel in den 70ern und 80ern. Seit Wittenborn wieder clean ist, hat er Romane und Drehbücher geschrieben, Filme produziert, vor allem aber seine Vergangenheit aufgearbeitet. Denn „Casper“ ist in weiten Teilen autobiografisch. Auch der Vater des Autors war Psychologieprofessor in Yale – den Amoklauf eines seiner Patienten musste sich Wittenborn nicht erst ausdenken. Entsprechend lässig kann er mit Psychologisierungen aller Art spielen. Dabei zeigt er sich als präziser Beobachter des Zwischenmenschlichen; sein Buch ist lebensweise, ohne mit altklugen Plattitüden zu langweilen.

Wittenborn schafft es dabei, den tragikomischen Alltag der Friedrichs kunstvoll mit einem Kapitel Wissenschaftsgeschichte zu verweben: die Psychopharmakologie ist dabei, die Psychoanalyse von ihrem Sockel zu stürzen. Es geht nicht länger darum, das Sein des Menschen zu verändern, sondern es medikamentös erträglicher zu machen. Doch auch Friedrich, der vom Assistenzprofessor zum prominenten Pharma-Berater aufsteigt, muss am Ende akzeptieren, dass Gefühle nicht verschreibbar sind und Wissen allein kein Glücksgarant ist.

Dirk Wittenborn: „Casper“. Aus dem Amerikanischen von Angela Praesent. DuMont, Köln 2007, 477 Seiten, 22,90 Euro Die Rezension ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit der FU Berlin. Ein Seminar über Literaturkritik hatte Besprechungen geschrieben, die beste veröffentlichen wir hiermit. Wir danken dem Verlag DuMont für die freundliche Bereitstellung von Rezensionsexemplaren