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Archiv-Artikel

Delirierende Zwischenwelten

Rückkehr mit einem neuen Buch und neuer Tolle: Am Mittwochabend las Clemens Meyer im Georg Büchner Buchladen am Kollwitzplatz aus seinem Erzählband „Die Nacht, die Lichter“ – Rückkopplungen inklusive

VON ANDREAS RESCH

Zwei Jahre ist es nun schon her, dass Clemens Meyers Romandebüt „Als wir träumten“ erschienen ist. Damals überschlugen sich die Feuilletons mit Lobeshymnen. Als „großer Roman“, gar als „Sensation“ wurde das Buch gefeiert, dessen Verfasser wechselweise mit Salinger oder Ernest Hemingway verglichen wurde. Schon aufgrund seines extravaganten Äußeren – tätowierter Oberkörper, rasierter Schädel – eignete sich der 1977 in Halle an der Saale geborene Autor, der vor seinem Studium am Leipziger Literaturinstitut als Bauhelfer, Möbelträger und Wachmann gearbeitet hat, perfekt für die Rolle des „authentischen Schriftstellers“. Clemens Meyer schrieb über das trostlose Leben in Leipzig-Ost, er schrieb über Kriminalität, Drogen und Gewalt, aber auch über die Liebe und seine große Leidenschaft: das Boxen.

Zumindest äußerlich hat jener Clemens Meyer, der am Mittwochabend um kurz nach acht das Podium des restlos überfüllten Georg Büchner Buchladens in Prenzlauer Berg betritt, nur noch wenig mit dem Feuilletondarling von damals gemein, was vor allem an der deutlich gewachsenen Haarpracht liegt: Mittlerweile ziert eine possierliche Tolle seinen Kopf. Zur Jeans trägt er ein bis oben zugeknöpftes, mit Nieten versehenes Country-Hemd.

Als die Probleme mit dem Mikrofon endlich einigermaßen behoben sind und S.-Fischer-Programmleiter Oliver Vogel seine Einführung beendet hat, beginnt Clemens Meyer aus seinem Erzählband „Die Nacht, die Lichter“ zu lesen – im Stehen, damit ihn auch „die Zuschauer auf’n billisch’n Plätzen“ noch sehen können: „Das Zimmer, in dem ich sitze, ist ziemlich klein und scheiße. Es gibt beschissenere Zimmer, im Knast und so. Nein. Ich mache die Augen auf. Da bin ich gar nicht in meinem kleinen Zimmer, meiner kleinen Einraumwohnung.“ Das Mikrofon gibt ein Störgeräusch von sich.

Die Geschichte heißt „Die Flinte, die Laterne und Mary Monroe“ und handelt von einem Mann, der in seinem Wohnzimmer auf der Couch sitzt, mit einem Gewehr auf Laternen schießt, Vitaminpillen schluckt, Drogen in seinem Schuh versteckt und zu seiner Freundin spricht, die aber leider nicht antworten kann, weil er sie erwürgt hat. Die Story ist düster, man sieht den Erzähler vor sich, wie er dasitzt mit dem Gewehr in der Hand. Clemens Meyer liest sehr rhythmisiert, der Text zieht die Zuhörer rasch hinein in eine abgründige, delirierende Zwischenwelt.

Als er die Erzählung nach gut 25 Minuten beendet hat, schaut Clemens Meyer auf die Uhr, „um zu sehen, wie lange das jetzt gedauert hat“. Er selbst finde ja nichts langweiliger als eine ausufernde Lesung und im Übrigen habe er „auch keine Lust, so lange zu lesen“. Im Publikum wird gelacht. Wenn Clemens Meyer einfach so drauflosspricht, erinnert er ein wenig an seinen Namensvetter, den kürzlich in Nürnberg entlassenen Fußballtrainer Hans Meyer: derselbe weiche Akzent, derselbe schnoddrige Tonfall, dieselbe beißende Ironie.

Dann räuspert sich Clemens Meyer und setzt zu seinem zweiten Text an, der den Titel „Das kurze und glückliche Leben des Johannes Vettermann“ trägt. Darin geht es um einen Künstler, der in einer riesigen Hotelsuite lebt, sich von nackten Frauen mit großen Brüsten Drogen spritzen lässt, der auf dem Boden herumkriecht und sich zurück in seine Kindheit fantasiert: „Sein Vater packt die Tüte mit dem Obst in seinen Schulranzen, wie jeden Morgen, dann legt er noch zwei Pfirsiche obendrauf. ‚Pfirsiche halten frisch‘, sagt er. Und Johannes Vettermann, fünfzehn Jahre alt, hat ganz frische und rosige Haut, um die ihn die Mädchen beneiden.“ Wild springt die Geschichte auf der Zeitachse hin und her, alles ein einziger Stream-of-Consciousness- Rausch: Vettermann an der Kunstakademie, Vettermann wird von einem Mann mit Hundekopf verfolgt, Vettermann, der im Sterben liegend von einem diabolischen Künstlerfreund heimgesucht wird.

Auch das abschließende Frage-und-Antwort-Spiel hat beachtlichen Unterhaltungswert. Clemens Meyer berichtet, dass er sich früher gerne selbst interviewt habe und dabei in die Rolle von Marcel Reich-Ranicki geschlüpft sei. Eine merkwürdige Vorstellung.

Anschließend erklärt er, sich nach dem Erfolg von „Als wir träumten“ eigentlich vorgenommen zu haben, „erst einmal drei Jahre nichts zu tun“. Aber als Schriftsteller verbringe man ja sowieso „neunzig Prozent des Tages damit, einfach nur so rumzusitzen“. Kurz bevor die Zuschauer in den unwirtlichen Spätwinter-Nieselregen entlassen werden, dementiert Clemens Meyer noch, dass es sich bei dem Maler aus der zweiten Geschichte um Jörg Immendorf handele. Das Mikrofon gibt eine finale Rückkopplung von sich.