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Archiv-Artikel

streikwege Waldemarstraße bis Prenzelberg

Die erste Streikwoche startet gut für mich. Ich trete meine neue Halbtagsstelle in Prenzlauer Berg an, nahe der Volksbühne am Anfang der Schönhauser Allee. Für die Uhrzeit schäme ich mich ein bisschen: Dienstbeginn ist elf Uhr. Trotzdem bedeutet es eine Umgewöhnung. Statt gemütlichem Frühstück mit Kaffee und Zeitung im Bett stehe ich beim Bäcker für ein Mitnahmebrötchen an und trinke den Kaffee erst am Arbeitsplatz.

Verkehrstechnisch liegt der Redaktionstisch, an dem ich nun sitze, nicht wirklich günstig. Ich wohne in der Waldemarstraße, der nächste Verbindungspunkt wäre wohl der Kotti. Da ich aber sowohl für Monatskarte als auch fürs Normalticket zu geizig bin, latsche ich lieber bis zur Station Heinrich-Heine-Straße (da ist es an sich auch ruhiger) und ziehe eine Kurzstrecke. Hin und zurück macht das 2,40 Euro, fünfmal in der Woche sind das 12 Euro, das geht okay.

Am dritten Werktag beginnt der BVG-Streik. Ich bin so clever, mir das von einem Auswandererfreund geschenkte Fahrrad zum Fahrraddoktor zu bringen. Es hat kein Schloss, kein Licht, einen ausgefransten Mantel vorne und einen Platten hinten. Es ist Mittwochabend fertig, sagt die Monteurin. Heißt für mich: Mittwoch zur Arbeit ist entweder Taxi angesagt oder laufen. Meinem Geiz und meinem Wunsch nach Gesundheit zuliebe entscheide ich mich für Letzteres. Ich brauche eine Dreiviertelstunde hin und genauso lange zurück.

Mittwochabend ist es so weit: Die Gurke, die Möhre, der geschenkte Gaul ist repariert. Inklusive Schloss (eine „Attrappe“, wie die Monteurin meint) kostet der Spaß 73 Euro. Ich rechne im Kopf aus, wie lange ich Fahrrad fahren muss, um das U-Bahn-Geld wieder reinzuholen, merke dann, dass ich die Streikzeit ja abziehen muss! Da bleibt mir nämlich nichts anderes übrig, als mit dem Rad zu fahren.

Donnerstag geht es also mit dem Gaul zur Arbeit. Als Erstes melden sich die Pedale ab – sie sind so brüchig, dass sie auseinanderfallen. Ich schaffe es trotzdem bis nach Prenzlauer Berg. Und zurück. Am Abend tauche ich wieder bei der Monteurin auf und kaufe neue Pedale. 7 Euro für zwei, Selbstanbringung inklusive.

Habe ich schon erwähnt, dass die Kette schleift und der Gaul auch keine Gangschaltung hat? Immerhin, das Wetter spielt mit. Heute war es richtig schön, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. An das Schwitzen gewöhnt man sich auch. Leider habe ich noch nicht ganz herausgefunden, wie man am besten fährt: über Annenstraße, an der Ruine der Republik vorbei, quer über den Marx-Engels-Platz, dann irgendwann links in die Rosa-Luxemburg-Straße? Oder doch lieber über die Jannowitzbrücke? Und dann? Stralauer Allee bis zur Spandauer, dann den gleichen Weg rechts? Oder links am Alexa vorbei und irgendwie quer über den Alexanderplatz? Navigationsgeräte für Citycrossings gibt es wohl noch nicht. Für Hinweise bin ich dankbar.

Der Gaul ist übrigens mein erstes Fahrrad seit dreieinhalb Jahren. Schon in mein letztes Rad hatte ich viel – zu viel – Geld investiert. Ich hatte es mühsam vom Niederrhein in die Hauptstadt transportiert und war fröhlicher Stammgast bei einem Studentenfahrraddienst um die Ecke. Irgendwann habe ich es nachts vor die „8mm Bar“ gestellt. Als ich morgens wieder aus der Kneipe stolperte, war es weg.

RENÉ HAMANN