: Lettische Kakofonie
Diese Künstler sind Internationalisten, die sich von den Fesseln der Vergangenheit befreien wollen. Trotzdem basieren die interessantesten Arbeiten auf konkreten historischen oder biografischen Ereignissen: Auf dem Flensburger Museumsberg ist derzeit eine Schau junger Kunst aus Riga zu sehen
VON PETRA SCHELLEN
Die Wunde der Stalin-Ära sitzt tief, aber darüber reden die Letten nicht. Jedenfalls nicht die 25- bis 30-Jährigen. Sie sind zwar nicht ahistorisch, aber es ist viel Zeit vergangen seit jenen Deportationen und den Repressionen der folgenden Dekaden. „Und 1989 waren die Künstler, die wir hier zeigen, noch Teenager“, sagt Norbert Weber. Er hat die aktuelle Ausstellung „Time will show“ mit junger lettischer Kunst auf dem Flensburger Museumsberg kuratiert.
Es ist in Deutschland die erste seit 20 Jahren; die letzte Schau lettischer Avantgarde hierzulande war 1988 in Berlin zu sehen. Doch die damals präsentierte Generation zählt jetzt zum Establishment, und Weber wollte gezielt die sehr Jungen fokussieren. Und deren Arbeiten reflektieren nun mal nicht das Rigaer Ghetto oder den Gulag, in dem 1941 rund 35.000 Angehörige der lettischen Intelligenz verschwanden und denen jetzt in Riga ein Denkmal gewidmet werden soll.
Die junge lettische Kunstszene interessiert sich weniger für Nationales als für Globales, sprich: für im Westen herrschende Strömungen. „In der lettischen Kunst“, sagt Weber, „ hat immer ein gemäßigter Modernismus geherrscht. Die Moderne wurde reflektiert, aber Provokationen gab es kaum.“ Eine Beobachtung, die großenteils auch für die Flensburger Ausstellung gilt, die von Schülern der Abteilung „Visuelle Kommunikation“ der Rigaer Kunstakademie bespielt wird. Deren Professor, Ojars Petersons, war Co-Kurator der Flensburger Schau. Doch das sei eher Zufall, sagt Weber. Zentrales Kriterium sei die Qualität gewesen. „Die Namen bestimmter Künstler, die etwa auf der Venedig-Biennale oder der Manifesta vertreten sind, begegnen immer wieder. Und etliche von ihnen sind eben Petersons‘ Schüler.“ Dabei habe Petersons mit Neuen Medien künstlerisch „gar nichts am Hut: Er ist Holzbildhauer, inspiriert seine Schüler aber ungemein“.
Die bedienen sich in der Tat aktuellster Formate, Reflexionen und Spielereien. Die Gruppe F5 zum Beispiel fragt per Video nach Anonymität und Nähe: Ignoriert man die Weinende in einer Stuhlreihe, oder nähert man sich ihr? Und wer hat eigentlich Maija Kurševas riesigen Comic-Grünling aufgesägt, der da mitten im Raum liegt? An den Schnittstellen bellen hysterische Video-Hunde. Ein kleines Drama mit offenen Fragen: Wer sägt wen auf, hätte man das wirklich müssen; was sieht, wer dem Zeitgenossen in die Eingeweide schaut?
Das Video von Krišs Salmanis, auf dem die Duschenden, je sauberer, desto unsichtbarer werden, gehört dagegen ins Reich der adretten Spielerei. Formal auch nicht neu, aber originell: die zu einer kleinen Collage angeordnete Video-Bildergalerie von Anete Melece. Sie nutzt ein Bild des Letten Mark Rothko als Vorhang, der den Blick auf ein kitschiges Landschaftsgemälde freigibt – ein böses Statement zum Kaufverhalten der derzeitigen lettischen Bourgeoisie.
Einen verspielten Stilmix bieten Miks Mitrevics‘ Installationen: Vergilbte Fotos hat er angeklebt, auf die penetrant ein Ventilator bläst. Einige Fotoreihen sind schon stark gelichtet, kontinuierlich verschwindet, was einst Erinnerung war: Warum erinnert man sich, wie korrekt ist all das Memorierte eigentlich? Und wie groß ist der Mensch im Verhältnis zum Universum, zum Berg, auf den der Künstler mühsam stieg? Jede Etappe wurde auf Video gebannt.
Gleich daneben hat er einen Papp-Engländer auf ein Zweiglein kraxeln lassen, ein lustvolles Durcheinander der Medien und Dimensionen. Woanders: eine Spanplatte, per Schraubstock mühsam und provisorisch anmontiert, um erneut Figürchen darauf zu setzen. Und der winzige Spielplatz da drüben: Metapher für das Spiel des Lebens oder konkrete Aufforderung zum Spiel? Wer hat eigentlich die frischen Fingerabdrücke im Sand hinterlassen? Es ist ein skrupelloses Spiel mit Kitsch-Reminiszenzen, ein Diorama der Absurditäten.
Soweit, so internationalistisch – doch was ist eigen, innovativ, speziell inspirierend an dieser Schau? Es sind ausgerechnet jene Arbeiten, die eben nicht dem thematischen Mainstream folgen, sondern historische oder biografische Konkreta aufgreifen: Das ist zum Beispiel Dace Džerina, die ständig die Wohnungen wechselt und dort jeweils putzt und scheuert. Diesen ephemeren Vorgang hat sie in poetischen Videos festgehalten: Wie Schnee wirbelt sonnenbestrahlter Staub auf. Selbst das Kratzen der Bürste auf der schmutzigen Kommode wird zum meditativen Klang. Die Künstlerin selbst wirkt wie eine Prinzessin, die verwunschene Wohnungen erweckt. Alte lettische Stuben und ihre längst weggezogenen Bewohner: eine Parabel auf Landflucht, vergangenes Elend, lettische Geschichte und Tradition, vielleicht.
Die nimmt auch Kaspars Podnieks in den Blick: „Einmal überlegte ich mir, wie es wäre, sich zu erhängen. Als ich mich aufgehängt hatte, konnte ich mich nicht mehr befreien … Man hat mich heruntergeholt, indem man das Seil durchschnitt“, schreibt er über seine Selbstporträts. Das klingt humorig und verspielt morbide, aber so ist es nicht gemeint. Zwar schwebt der Künstler auf den Schwarzweiß-Fotos tatsächlich etliche Meter über dem Boden, im Hintergrund sieht man allerdings den Bauernhof seiner Eltern. Der Künstler hängt sozusagen unschlüssig zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
In Wirklichkeit steht er auf dem schmalen Steg eines Krans, aber das Ganze ist so geschickt fotografiert, dass man den nicht sieht. Podnieks steht also schon auf festem Grund und hat Verbindung zur Tradition – aber man sieht sie nicht, und er fühlt sich orientierungslos in die Welt geworfen. Eine Metapher für den Abschied der Künstler von den Fesseln nationaler Geschichte und ihrer Katastrophen.
Letztere illustriert – ein letztes Mal? – Evelina Deičmane: Sie hat eine Schallplatte aus zwei verschiedenen Hälften montiert. Lettische Chansons der 30-er und russische Lieder der 40-er Jahre folgen endlos und stetig unterbrochen aufeinander. Daneben, in derselben Vitrine und schlau von 3-D auf 2-D umschaltend: das Video einer alten Dame, der Oma der Künstlerin. Deičmane hat ihr die Platte vorgespielt, sie hielt sich bei den Liedern der russischen Okkupanten entsetzt die Ohren zu. Beim lettischen Chanson lächelt sie. Eine Achterbahn der Gefühle und Erinnerungen, die für die Enkelin ein interessantes, aber kein unmittelbar bewegendes Dokument ist. Vielleicht bietet die künstlerische Überhöhung einen Ausweg aus der unverschuldeten Verständnislosigkeit der Nachgeborenen.
Was die Flensburger Schau also letztlich spannend macht, sind interessanter- und paradoxerweise gerade die auf spezifisch lettische Geschichte oder Gegenwart anspielenden Arbeiten. Schmal ist – besonders bei der putzenden Dace Džerina – der Grat zur Tümelei, weckt doch jede lettische Holztür schnell den Verdacht, hier werde auf den Exotenbonus gesetzt. Aber dieser Vorwurf ist ungerecht. Was diese Künstler wollen, ist Authentizität – und zu ihr gehört eben oft die Nahaufnahme.
Dass die in diesem Fall aus der Peripherie Europas stammt, ist eher ein Problem des westlichen Betrachters, der das abwechselnd inspirierend und verdächtig findet. Wer sich von solcherlei Urteilslust befreit, kann in dieser Ausstellung äußerst fündig werden.
Die Ausstellung ist bis 13. 4. auf dem Flensburger Museumsberg zu sehen.