: „Wir zeigen die Stadt kritisch“
Seit 25 Jahren bietet StattReisen Berlin alternative Stadtführungen an. Das Konzept von thematisch abseitigen Rundgängen zu Fuß wird heute vielfach kopiert, sagt Geschäftsführer Jörg Zintgraf
JÖRG ZINTGRAF, 47, ist einer der drei Geschäftsführer von StattReisen Berlin. Er studierte Geschichte, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften.
INTERVIEW LISA THORMÄHLEN
taz: Herr Zintgraf, StattReisen feiert heute sein 25-jähriges Jubiläum. Wie hat sich der Stadttourismus in Berlin verändert?
Jörg Zintgraf: Zwei Impulse haben großes Interesse geweckt, das neue Berlin kennen zu lernen: der Mauerfall und der Hauptstadtumzug.
Die Mauer zieht immer noch?
Ja. Das Thema „Mauer“ ist nach wie vor sehr stark. Auch heute kommen weiterhin viele Menschen nach Berlin, die die Stadt nach dem Mauerfall noch nicht erlebt haben. Das gilt für inländische und ausländische Touristen. Und dann hat durch Billigflieger das ausländische Publikum insgesamt zugenommen. Zu uns kommen zum Beispiel viele Schweizer.
Wie haben sich die Wünsche der Touristen verändert?
Lange Zeit gab es Standardrundgänge, wo alle hin wollten. Das waren zum Beispiel Themen wie die Mauer, das historisches Zentrum oder Prenzlauer Berg. Mittlerweile braucht man ein differenziertes Programm, um ein großes Publikum zu erreichen. Es gibt aber auch Konjunkturthemen, zum Beispiel den Rundgang „Wege in das jüdische Berlin“. Da hängt das Interesse davon ab, ob das Thema gerade politisch oder gesellschaftlich aktuell ist.
Was ist der Grund für diese Ausdifferenzierung?
Wir beobachten, dass viele Menschen zum wiederholten Mal nach Berlin kommen und die Standardsehenswürdigkeiten schon kennen. Andere kommen mit einem ganz bestimmten Interesse nach Berlin. Und es gibt viele, die sich die Hauptattraktionen allein erlaufen.
Wie hat sich denn der Markt für Stadtführungen verändert?
Vor 25 Jahren ist StattReisen mit einer völlig neuen Idee in den Stadttourismus gekommen: Stadtführungen zu Fuß nach thematischen Gesichtspunkten anzubieten. Die erste Tour war damals „Hallo, Roter Wedding“. Damals waren wir konkurrenzlos. Mit einer kleinen Verzögerung kam es nach dem Mauerfall zu einer inflationären Ausweitung. Nach 1993 sind die Anbieter wie die Pilze aus dem Boden geschossen. Heute sind es ungefähr 50. Besonders wenn es um das öffentliche Programm geht, ist es ein sehr umkämpfter Markt geworden. Wir versuchen deswegen, unsere Arbeit schwer kopierbar zu machen.
Wie machen Sie das?
StattReisen feiert 25-jähriges Jubiläum. Beinahe täglich gibt es inzwischen eine von rund 50 Stadtführungen durch Berlin. Die Touren haben einen thematischen Schwerpunkt und zeigen unbekannte Ecken der Stadt oder Bekanntes aus einer kritischen Perspektive. Hervorgegangen ist StattReisen 1983 aus der Geschichtswerkstatt Wedding. Damals leistete der Verein einen Großteil seiner Arbeit mit Hilfe von ABM-Stellen. Seit zwei Jahren ist StattReisen eine GmbH mit sieben festen und über fünfzig freien Mitarbeitern. Der Berliner Verein lieferte seinerzeit die Initialzündung für Nachahmer in anderen deutschen Städten. Die Anbieter kooperieren innerhalb des „Forums Neue Städtetouren“. Am Jubiläumstag geht StattReisen Berlin noch einmal zurück zu den Ursprüngen. Um 14 Uhr startet heute die Tour „Hallo, Roter Wedding“ am U-Bahnhof Reinickendorfer Straße. LT
Wir haben zum Beispiel einen Rundgang mit Unterstützung von Audioguides. Das haben wir zuerst für die Tour zur Berliner Mauer ausprobiert. Da gibt es zum Beispiel Presslufthammer-Geräusche vom August 1961. So kann man sich vorstellen, wie es war, als die Mauer gebaut wurde. Wir haben auch O-Töne von Radiosendungen aus Ost oder West, damit man sich die Stimmung des Kalten Krieges vorstellen kann. Diese Touren sind schon wegen der Urheberrechte schwer zu kopieren.
Eine Tour geht vom Hauptbahnhof zum Potsdamer Platz. Wo ist das noch jenseits touristischer Pfade möglich?
Zunächst: Man muss erst mal auf die Idee kommen, diese Tour anzubieten. Wir waren damit die Ersten. Zweitens ist immer die Frage, wie man etwas zeigt. Wir verstehen uns als ein Anbieter, der die Stadt kritisch zeigt. Wir gehen auch mal unter die Oberfläche und gucken, welche unterschiedlichen Meinungen es zu bestimmten Orten gibt – etwa zur städtebaulichen Diskussion am Hauptbahnhof und am Potsdamer Platz. Die Teilnehmer sollen sich eine eigene Meinung bilden können. Der kritische Ansatz zeigt sich auch bei einer Tour über den Ku’damm. Bei dieser Führung geht es nicht nur um die Einkaufsmeile, sondern auch um Themen wie Drogenabhängigkeit und Obdachlosigkeit.
Welche Ihrer Touren laufen derzeit am besten?
Ein Rundgang, der kontinuierlich gut läuft, ist „Weltstadt Kreuzberg: von Zuwanderern zu Einheimischen“. Und was StattReisen auszeichnet, sind unter anderem die Kiezspaziergänge. Das ist etwas, was andere so nicht bieten. Wir greifen dabei immer wieder soziale Themen auf und zeigen unbekannte Sehenswürdigkeiten. Unser Star im letzten Jahr war übrigens die Tour vom Hauptbahnhof zum Potsdamer Platz. Das hätten wir vorher auch nicht gedacht.