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Archiv-Artikel

Das Tier verschwindet

Eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle zeigt den westlichen Blick auf die Mitlebewesen. Fliegende Vögel, aus dem Wasser schnellende Fische gibt es keine – dafür umso mehr tote Tiere

Sie bilden ab, was die westliche Welt wesentlich kennzeichnet: die Hybris der menschlichen Naturbeherrschung

von MAXIMILIAN PROBST

Von dem in New York geborenen Literaturwissenschaftler Harold Bloom weiß man, dass er bereits ein junger Mann war, als er aus einem Zugfenster zum ersten Mal in seinem Leben eine Kuh sah. Weniger komisch ist ein Fall, den der Kunstwissenschaftler John Berger erwähnt: eine Londoner Hausfrau wünschte sich nichts so sehr, wie einmal einen Löwen zu umarmen. Sie tat es, im Safari-Park in Bewdley – und musste mit Verletzungen und unter Schock ins Krankenhaus eingeliefert werden. Und wirklich tragisch ist, was sich vor einiger Zeit im Antwerpener Zoo zutrug. Dort war nachts eine Frau in das Geparden-Gehege eingedrungen. Offenbar wollte sie ihrem Liebling, für eins der Tiere hatte sie eine Patenschaft übernommen, einmal näher sein. Überlebt hat sie es nicht.

Sind das Extrembeispiele, die es immer gegeben hat und die über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier nichts aussagen? Oder sollte man sie als den vorläufigen Gipfel einer allgemeinen Entwicklung betrachten? Einer Entwicklung, die sich etwa so zusammenfassen lässt: Immer seltener bekommt der Mensch das Tier in den Blick, und immer häufiger verkennt er dabei dessen tierische Natur.

Diesen Schluss legt jedenfalls eine rund 40 Exponate umfassende Ausstellung mit Tierdarstellungen nahe, die derzeit im Hegewisch-Kabinett der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist. Sie empfängt den Besucher mit einem von Dürer gemalten Löwen. Das Bild ist ein kleines Wunder von Zeichenkunst, man kann sich am feinen Strich erfreuen – und dabei fast übersehen, dass Dürer dem Löwen die Herrschermiene eines Kurfürsten verpasst hat. Und dieser Kurfürst trägt keine Löwenmähne, er trägt die Dürermähne, so wie wir sie von seinen Selbstbildnissen kennen.

Nun mag man einwenden, dass Dürer einen leibhaftigen Löwen seinen Lebtag nicht gesehen hat und das Bild dafür erstaunlich gut sei. Sein Zeitgenosse Ludwig Schongauer aber hätte es besser wissen müssen: bei ihm heben und knicken die heimischen Schweine ihre Pfoten so reizend, wie es sonst nur Hofdamen tun, wenn sie die Hand zum Kuss hinhalten.

Bei Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, ungefähr in der Mitte des Ausstellungsrundgangs, ist das Tier gänzlich Vorwand: er zeichnet die Fabel Reineke Fuchs. Eine Gänseschar, unsägliches Geschnatter, erhebt Klage gegen den verschlagenen Titelhelden. Ein Löwe, König Nobel, thront über ihnen. Er soll den Richtspruch fällen, schaut aber verdrießlich – unmöglich, auch nur ein Wort zu verstehen – und ziemlich ratlos drein.

Menschliche Charaktere, die spaßeshalber in der Verkleidung von Tieren einhergehen, finden wir auch auf einem Bild Picassos am Ende der Ausstellung. Im Unterschied zu Tischbein handelt es sich allerdings um keine Fabel. Der wohl autobiografisch motivierten Szene, wie eine hübsche Stute unter die Hufe eines wilden Stiers gerät, lässt sich jedenfalls kaum eine Moral entnehmen.

„Tierisch! Tierdarstellungen aus vier Jahrhunderten“ lautet unfreiwillig komisch der Titel dieser Ausstellung, in der das Tier und das Tierische nur durch Abwesenheit glänzt. Goya zeichnet ein massiges, buckliges Wesen, das eigentlich nur wegen des wiewohl etwas sonderlich geschwollenen Rüssels als Elefant durchgehen kann. Weise bärtige Männer halten diesem Elefanten ein aufgeschlagenes Buch vor die Nase, und Goya gelingt es, ihn dumm wie ein Schaf hineinschauen zu lassen. „Ungereimtheit mit wildem Tier“ heißt das Werk, hätte aber auch den Titel „Ungereimtes Tier“ verdient. Eine andere „Ungereimtheit“ Goyas zeigt leichtfüßige Stiere durch die Lüfte segeln: als tanzten sie Tschaikowskis „Schwanenseeballett“.

Etwas anders liegt der Fall bei Johann Elias Ridingers behäbigen Radierungen von Löwe, Bär, Wildschwein und Tiger nebst den Abdrücken ihrer Tatzen, Pfoten und Hufe. Hier interessiert sich der Künstler nicht fürs Tier, sondern zeichnet mit dem Lauf des Gewehrs eine Zielscheibe.

Bei Richard Earlam sind die Schüsse schon gefallen. Nun breitet sich der ganze Reichtum des Waldes in der ärmlichen Stube des Wildhändlers aus: Hasen, Fasane, Perlhühner. Auf einem anderen Bild Earlams wiederholt sich die Szene, nur sieht man diesmal einen Fischhändler und was das Meer dem Menschen so alles schenkt: seltsamste Molluske, Muscheln, Fische aller Formen.

Bei beiden, bei Earlam und Ridinger, sind die Tiere zwar annährend realistisch dargestellt, aber jedes Mal aus dem lebendigen Bezug zu ihrer Umwelt herausgerissen. Wir sehen auf diesen Grafiken keine Tiere, wir sehen ihre starren Hüllen.

Es ist schon auffällig: Nirgends ein Vogel, der auf einen Ast zuschwirrt, nirgends eine Forelle, die aus dem Bach schnellt, wie man es von alten chinesischen und japanischen Meistern kennt. Dafür wimmelt es in der europäischen Kunstgeschichte nur so von Totem, von Nutz-, Haus- oder Zootieren. Den Künstlern wird man diese Verengung des Blicks allerdings nicht anlasten dürfen. Sie bilden ab, was die westliche Welt eben wesentlich kennzeichnet: die Hybris der menschlichen Naturbeherrschung und die von ihr ins Werk gesetzte Auslöschung.

Die Hamburger Tierausstellung kulminiert in zwei Radierungen von Picasso. „Der Stier, 5. Zustand“ zeigt uns das Tier zerlegt in geometrische Figuren, mathematisch vermessen. Eine technische Zeichnung, eine Konstruktionsskizze. „Der Stier, 11. Zustand“ wahrt nur noch die Kontur: 10 Striche bleiben vom schwindenden Tier.

Es ist ein Ende der Tierdarstellung, das sich mit dem Anfang berührt. Denn Picassos Bild sieht den Höhlenmalereien von Lascaux, den ersten Zeugnissen der menschlichen Kunst, zum Verwechseln ähnlich – und könnte nicht entfernter von ihnen sein. In Lascaux bildete der Mensch mit der beschränktesten Mitteln der Kunst die reichste Beziehung zu den mit ihm lebenden Tieren ab. Picasso setzt 17.000 Jahre später, 1946, mit den reflektiertesten Mitteln der Kunst die armseligste Beziehung des Menschen zum Tier ins Bild.

Und heute? Wer aus dem Hegewisch-, dem Schreckenskabinett heraustritt, findet sich unversehens in der „Galerie der Gegenwart“ wieder. Zwischen Filzfetzen, Stahlblechriegeln, Aschehaufen und ausrangierten Haushaltsgeräten hängen Warhols Drucke vom elektrischen Stuhl und Hanne Darbovens Zahlenkolonnen. Tiere wird man dort vergeblich suchen.

Bis 6. Juli in der Hamburger Kunsthalle