: berliner szenen Den Sound suchen
Sieben leere Wohnungen
Wenn man ein Buch schreiben wolle, müsse man aus der Provinz nach Berlin gehen, sagte die Freundin. Müsse sich dort in ein verschrammeltes Haus setzen, am besten im Winter, Kaffee trinken, Melancholie in den Augen tragen, dann brächen die Worte über einen herein. Man dürfe ruhig frieren. Die Großstadt sagte sie, die ist so anonym, und die Kohleöfen in Berlin, da weißt du plötzlich wieder, wer du bist. Die Worte würden sich dann von ganz allein aufs Papier setzen. Das gäbe dann den Judith-Hermann-Sound. Ich sagte also okay, mach mal, ich warte.
Sie ging nach Berlin, wegen der Arbeit und um nebenher das Buch zu schreiben. Am zweiten Abend rief sie an und sagte begeistert, sie sei in einem Haus, in dem früher mit Sicherheit direkt Besetzer gewohnt hätten, so grau und alt sei das. Toll sei es da, sie sei ganz alleine mit dem Holzkohleofen. Der stinke, und im Treppenhaus stünden rausgerissene Klos, manchmal pfeife der Wind durch aufgerissene Fenster im Gang. Das gibt den Sound, wart mal ab.
Sie ruft mich wieder an, es ist schon Nacht. Gerade sei sie raufgegangen im Dunkeln, vorbei an sieben leeren Wohnungen, niemand dürfe wissen, dass sie da wohne. Aber es sei ja auch niemand da. Ihre Vermieterin klage gerade, weil die Hausverwaltung sie rausschmeißen wolle. Im Kiez werde alles saniert, und die Vermieterin sei so etwas links, die hätte dadrauf keinen Bock, sagt die Freundin. Okay, sag ich und frage nach dem Buch. Zu kalt zum Schreiben, sagt sie. Da hört sie ein Kratzen an der Tür und stellt den Stuhl unter die Klinke. Der Sound, der komme von innen, sie warte, sagt sie. Alle Leute tragen hier den Sound in sich, sieht man doch, sagt sie. Ob ich heute Nacht mal mein Handy anlassen könne? KATRIN KUNTZ