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Archiv-Artikel

„Der Mainstream ist nicht nur negativ“

Der Lübecker Kreuzweg ist der älteste Deutschlands. Seit das bekannt ist, wächst die Zahl der Teilnehmer an der Karfreitags-Prozession stetig. Beate Bäumer ist Mitherausgeberin eines neuen Bändchens über den Kreuzweg und erklärt, warum immer mehr Leute kommen

BEATE BÄUMER, 35, studierte Juristin und Journalistin, ist seit dem Jahr 2001 für Schleswig-Holstein zuständige Redakteurin der Stabsstelle Medien, die beim Erzbistum Hamburg angesiedelt ist.

taz: Frau Bäumer, sind Kreuzwege nicht ein Archaicum, das abgeschafft gehört?

Beate Bäumer: Nein. Denn die Praxis zeigt, dass die Menschen Kreuzwege durchaus noch annehmen und als Form begreifen, Glauben auszudrücken – gerade auch zur Passionszeit. Dabei geht es weniger darum, den dramatisch blutenden Jesus zu zeigen, sondern das eigene Leben einzubringen: das Kreuz, das ich persönlich trage.

In der Einleitung Ihres Buchs steht, es entspreche dem Zeitgeist, den Glauben öffentlich zu bekennen. Das klingt nach Mainstream: Wir gehen zum Papst, wir erwandern mit Hape Kerkeling den Jakobsweg, erfreuen uns an Events – aber mehr steckt nicht dahinter.

Ich halte den Mainstream nicht nur für negativ. Kirche sollte aufgreifen, was die Menschen bewegt – und in Bezug auf den Lübecker Kreuzweg haben sie deutlich gezeigt, dass sie ihn gemeinsam gehen wollen; die Teilnehmer werden stetig mehr. Und was nützt es, wenn Sie sich stattdessen Karfreitag mit zehn Leuten in die Johannespassion oder in einen Karfreitagsgottesdienst zurückziehen, der die Masse nicht anspricht?

Zieht der Lübecker Kreuzweg wirklich so viele an?

1994 hat die katholische Propsteigemeinde Herz Jesu mit rund zehn Personen begonnen; 2002 haben wir den Kreuzweg erstmals ökumenisch gefeiert – mit 20 Personen. 2004 waren es 50, 2005 bereits 150, 2006 rund 400, 2007 ca. 650 und 2008 sage und schreibe 700 Teilnehmer.

Wie ging das zu?

Das lässt sich recht minutiös erklären: 2004 haben wir die Geschichte dieses ältesten deutschen Kreuzwegs erstmals publik gemacht, was wohl viele Menschen neugierig machte. Im Jahr 2005 ist dann zum ersten Mal der Hamburger Erzbischof Werner Thissen mitgegangen, der weitere Teilnehmer motivierte. 2006 war dann auch die Lübecker Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter dabei – es war das erste Mal, dass zwei hauptamtliche Bischöfe das Kreuz gemeinsam trugen. Ein sehr symbolträchtiger Moment. 2007 hatten wir dann ein extrem großes Presse-Echo, vor allem im Fernsehen – und so sind die Teilnehmer immer mehr geworden.

Wie groß ist der Einzugsbereich des Lübecker Kreuzwegs?

Er reicht bis Ostholstein und sogar Buxtehude. Und was die Professionen betrifft, war in diesem Jahr sogar der schleswig-holsteinische Ex-Innenminister Ralf Stegner dabei. Auch Björn Engholm ist mehrmals mitgegangen.

Warum nehmen die Leute teil? Weil sich’s in Gemeinschaft so nett wandert?

Nein. Es ist keineswegs so, dass die Leute zwischen den Stationen übers Wochenende plaudern. Es herrscht vielmehr eine ruhige, gelassene Stimmung – eine konzentrierte Prozession, die von Station zu Station geht. Was die Menschen motiviert, ist wohl die Form: Man läuft den Kreuzweg nicht, wie sonst oft üblich, in der Kirche, sondern draußen. Außerdem ist es eine sehr familienfreundliche Veranstaltung. Die Familien mit Kindern werden stetig mehr, was auch verständlich ist: Die Kinder können herumlaufen, es hallt nicht so, Geräusche stören nicht so sehr. Außerdem ist der Kreuzweg eine gute Chance, Kindern zu erklären, was der Karfreitag bedeutet.

Warum entdecken die Menschen den Kreuzweg gerade jetzt wieder neu?

Es ist schon so, dass die Menschen sich für Religion interessieren und Rituale suchen. Und der Kreuzweg ist eine gute Möglichkeit, seinem Glauben Ausdruck zu verleihen. Außerdem bietet er die Chance, in der Menge unterzutauchen und das Ritual unverbindlich mal mitzuerleben. Man verpflichtet sich zu nichts, steht nicht unter Beobachtung wie vielleicht in der katholischen Kirche, wo früher oder später auffällt, dass man an bestimmten Stellen nicht weiterweiß.

Hoffen Sie, dass einige dieser „Schnupper-Christen“ zu regelmäßigen Kirchgängern werden? Ist der Kreuzweg auch ein bisschen PR in eigener Sache?

Natürlich hoffen wir, dass die Menschen während des Kreuzwegs eine positive Erfahrung machen und vielleicht auch mal ein Angebot der Kirche in Anspruch nehmen. Aber wir schielen nicht explizit auf Gottesdienst-Besucherzahlen.

Hat der Kaufmann Hinrich Konstin, der den Lübecker Kreuzweg errichten ließ, das eigentlich aus Dankbarkeit oder aus Angst getan?

Über Konstin ist sehr wenig bekannt; etliche Sagen ranken sich um ihn. Deshalb können wir auch im Rahmen des Kreuzwegs nur darüber spekulieren, warum zu seiner Zeit so viele Menschen nach Jerusalem gepilgert sind und von dort Kreuzwege quasi mitgebracht haben. Er wollte wohl den Menschen seiner Heimatstadt etwas Gutes tun. Andererseits verschafft es einem natürlich Prestige, einen Kreuzweg zu stiften. Fraglich ist allerdings, warum Konstins Kreuzweg erst nach seinem Tod errichtet wurde.

Viele wollten aber durch ihre Pilgerfahrten Ablass-Fleißkärtchen sammeln. Ist das nicht eine Form von Egoismus?

Für den mittelalterlichen Menschen war es sicher ein bisschen so – denn wer hat schon Lust, im Fegefeuer zu schmoren. Und das war eine reale Bedrohung, wenn man bedenkt, was den Menschen damals über das Jenseits berichtet wurde. Insofern wird auch Konstin für seine Pilgerfahrt und sein Kreuzweg-Vermächtnis mehrere Gründe gehabt haben. Interview: PETRA SCHELLEN

Beate Bäumer/Claudia Schophuis: Von Jakobi bis Jerusalem. Petersberg 2008; 48 S.