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Archiv-Artikel

Der Provokateur und entfesselte Stilist

Diskussionen löste Heinz Schlaffer aus mit seiner „Kurzen Geschichte der deutschen Literatur“. Am Sonntag erhält der Literaturwissenschaftler, 68, den Heinrich-Mann-Preis für Essayistik. FOTO: HANSER VERLAG

Träumend sich ablenken lassen, ein paar Seiten lesen, blättern, irgendwo neu anfangen, irgendwann beiseite legen: Schon vor Jahren hat der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer in einem Aufsatz daran erinnert, dass Lektüre im Normalfall ungefähr so abläuft. Wer liest schon Bücher stets konzentriert und dann auch noch zu Ende? Das gelesene Buch ist eine Fiktion, auf die Kritik, Leser und Wissenschaft immer wieder hereinfallen…

Schlaffer hingegen hat dennoch einiges getan, um zu Ende gelesen zu werden. Pointierte Urteile und sprachliche Eleganz, Kürze und Würze sind typische Merkmale seiner Bücher, die keinen akademischen Jargon benötigen. Wenn am Sonntagabend die Berliner Akademie der Künste dem 1939 geborenen Germanisten ihren diesjährigen Heinrich-Mann-Preis verleiht, so zeichnet sie erneut einen Intellektuellen mit Lust an der Provokation aus. Zuletzt waren leidenschaftliche Geister wie Karl-Heinz Bohrer, Ivan Nagel und Götz Aly unter den Preisträgern. Die Jury lobte in ihrer Begründung die „selten gewordene Einheit von Philologie und Literaturkritik“ in Schlaffers Werk. Heftig war die Debatte, die Schlaffer 2002 mit seinem gerade mal 160 Seiten schmalen Buch „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ auslöste: Eigentlich sei es mit der seit 1950 vorbei; ihre kurze Blüte hätte sie zwischen 1750 bis 1830 und dann noch mal nach 1900 gehabt. Konventionelle Köpfe rebellierten damals lautstark gegen solche knackige Kulturkritik. Fächergrenzen überschreitet Schlaffer souverän: Von der Antike über Marx und Nietzsche bis hin zu den bildenden Künsten reichen seine weitgespannten Interessen; zahlreiche Essays und Rezensionen in den Feuilletons zeugen davon.

Aus der Asche des 70er-Jahre-Marxismus wuchs an deutschen Universitäten später so mancher Phönix geläutert empor, zum Beispiel der Historiker Karl Schlögel, der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen oder der Kunsthistoriker Horst Bredekamp. Heinz Schlaffer, der seit 1972 im roten Marburg und von 1975 bis 2004 in Stuttgart lehrte, befreite sich früh von materialistischen Schlacken. Sein jüngstes Buch „Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen“ (2007) versuchte schließlich die Macht der Sprache zu beschreiben: Im Falle Nietzsches hatte sie immense ästhetische und gesellschaftliche Spätwirkungen, von George bis Hitler und Heidegger. So fragwürdig manche Zuspitzung Schlaffers klang: Der große Gesten liebende Mythenzertrümmerer unter den deutschen Philosophen hatte seinen kongenialen Philologen gefunden. Ob konzentriert oder träumend abgelenkt: Schlauer macht Schlaffer-Lektüre allemal. ALEXANDER CAMMANN