: „Nützt nichts, schadet nichts“
Der Dortmunder Schulforscher Wilfried Bos stellt die Wirkung einer sechsjährigen Grundschule in Frage. Besser sei das Zwei-Säulen-Modell oder die skandinavische Schule für alle
WILFRIED BOS, ist Experte für Internationale Bildungsforschung und leitete die Grundschulstudien Kess und Iglu
INTERVIEW VON KAIJA KUTTER
taz: Herr Professor Bos, Sie haben in Hamburg die Grundschulstudie Kess und international die Grundschulstudie Iglu geleitet. Haben Sie eine Meinung zu der geplanten sechsjährigen Grundschule in Hamburg?
Wilfried Bos: Das kostet nur Geld und wird wenig bringen. Man wird die Fehler, die man heute bei der Aufteilung der Kinder nach Klasse 4 macht, nur um zwei Jahre verschieben.
Welche Fehler?
Na, wir wissen aus unseren Studien, dass die Aufteilung der Kinder nach Klasse 4 für 40 Prozent der Kinder nicht optimal läuft. Dieser Fehler würde nur um zwei Jahre verschoben. Aber es gibt doch positive Erfahrungen an den kooperativen Gesamtschulen, wo die Kinder in Klasse fünf und sechs noch zusammenbleiben. Dort machen sehr viele später Abitur. Aber ich weiß, wenn ich aufteile, mache ich Fehler.
Kann es nicht sein, dass die Kinder sich in den zwei Jahren noch entwickeln?
Natürlich. Die entwickeln sich später auch noch. Das bleibt so bis zum Abschluss in Klasse 10. Erst dann, nach der Pubertät entscheidet sich, ob sie das Abitur anstreben oder in den Beruf gehen. Aber ein Zwölfjähriger weiß noch nicht, ob er Tischer oder Literaturprofessor werden will. Ich bin kein großer Freund von der Aufteilung generell. Aber wenn es sein muss, weil unsere Gesellschaft es so will, dann ist es egal ob nach Klasse 4 oder 6. Es wäre ein großes wissenschaftliches Experiment. Die Politik sollte überlegen, ob sie es gleich flächendeckend einführt oder an fünf Schulen ausprobiert.
Der Berliner Bildungsforscher Rainer Lehmann hat jetzt in der Welt davor gewarnt, dass leistungsstarke Kinder an der sechsjährigen Grundschule zu wenig lernen. Sehen Sie die Gefahr auch?
Das wird mein Berliner Kollege sicherlich gut mit Daten über die dortige sechsjährige Grundschule abgesichert haben. Das Risiko, dass leistungsstarke Kinder weniger lernen, ist gegeben. Das muss aber nicht zwangsläufig eintreffen. Wenn man es umsichtig einführt, ordentlich evaluiert und die Lehrkräfte dafür ausgebildet sind, diese Kinder entsprechend zu fördern, kann es passieren, dass dies nicht eintritt.
Es heißt, dass die Leistungsstarken auch an Gymnasien zu wenig gefördert werden.
Wir stellten in der Iglu-Studie fest, dass sie an den Grundschulen zu wenig gefördert werden. Unsere Grundschulen sind im internationalen Vergleich gut. Aber wir haben mit 20 Prozent eine kleinere Leistungsspitze als etwa England mit 30 Prozent.
Bei den schwarz-grünen Koalitionsverhandlungen hat die CDU der GAL eine sechsjährige Grundschule angeboten. Der Grundschulverband in Hamburg hat sich gestern dafür ausgesprochen. Eine längere Grundschule biete die Chance, „die pädagogische Kompetenz der Grundschulen zu nutzen und Kindern zu größeren Lernerfolgen zu verhelfen“, erklärte die Verbandsvorsitzende Susanne Peters. Spätestens seit der Iglu-Studie (Internationale Lese-Grundschul-Untersuchung) sei deutlich, dass deutsche Kinder am Ende der Grundschule im europäischen Vergleich gut abschneiden, ihre Leistungen an den weiterführenden Schulen aber sinken. Selbstständiges Lernen, kooperative Lernformen und individuelle Leistungsrückmeldung gehörten zum Alltag der Grundschulen, jedoch nicht der weiterführenden Schulen. KAJ
Lehmann verweist auf die Hamburger LAU-Studie und sagt, es sei für Kinder aller Fähigkeitsstufen günstiger, in einem intellektuell anspruchsvollen Lernklima zu lernen.
So ist es. Deswegen sage ich: Gymnasium für alle! Wenn Sie ein Kind bei gleicher Ausgangslage auf eine Hauptschule, eine Gesamtschule oder ein Gymnasium schicken, lernt es am Gymnasium am meisten dazu. Es kann auch auf einer sehr guten Gesamtschule viel lernen.
Was heißt das für Hamburg? Sollte die Politik keine halben Sachen machen und das skandinavische Modell einführen?
Wir wissen, dass das skandinavische Modell hervorragend funktioniert und sogar noch besser sein kann als unser Schulsystem. Aber wir haben in Deutschland eine andere Historie, in der die Aufteilung der Kinder dazu gehört. Deshalb hat der Aktionsrat Bildung, dem ich angehöre, sich ganz pragmatisch für das Zwei-Säulen-Modell aus Gymnasium und Stadtteilschule ausgesprochen. Die sechsjährige Grundschule nützt nichts und schadet nichts.