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: Schnipp, schnapp: Erst was zerstückelt war, fängt an zu leben

Fabelhaft ist die Welt der Brüder Quay. Eine Doppel-DVD mit Stop-Motion-Animationsfilmen gewährt Einblick

Ein Mann mit weiß geschminktem Gesicht betritt eine Bühne vor einem leeren Zuschauerraum. Auf der Bühne stehen Gegenstände, Requisiten, eine unübersichtliche Apparatur. Die Kamera zeigt sie in Nahaufnahmen. Dann steht der Mann vor einem dieser Geräte, sammelt Speichel, spuckt hinein in einen Schacht der Apparatur. Das zeigt die Kamera von außen, dann aber ist sie im Inneren des Geräts, wo der Speichel etwas in Gang setzt: Zahnräder, einen Motor, Fäden, Rollen. Eine männliche Puppe taucht auf, an einem Faden hängt eine Hand, nach der sie greift. Wir sehen ein letztes Mal das Außen, der Mann mit der Spucke nimmt eine Schere. Schnipp: die Apparatur, die Puppe, das von der Spucke in Bewegung gesetzte Innen, sind von nun an sich selbst überlassen. So beginnt „Street of Crocodiles“, das Animationsfilm-Meisterwerk der Zwillingsbrüder Stephen und Timothy Quay.

Zugrunde liegt „Street of Crocodiles“ eine Erzählung des großen polnischen Autors Bruno Schulz. Ihm und Robert Walser, auch Franz Kafka, fühlen die Brüder sich erklärtermaßen wahlverwandt. Autoren der klassischen Moderne allesamt, die aus Worten Wirklichkeiten bauen, denen der Boden unter den Füßen dann mit ebendiesen Worten gleich wieder weggezogen wird. Ein exemplarischer Satz in „Krokodilstraße“ lautet: „Es ist ein sehr grauer Tag, wie stets in dieser Gegend, und die ganze Szenerie gleicht manchmal einer Fotografie aus einer illustrierten Zeitung, so grau, so flach sind die Häuser, die Menschen und die Gefährte. Diese Wirklichkeit ist dünn wie Papier und verrät durch alle Ritzen ihre Gemachtheit.“

Auch die Wirklichkeit der Filme der Brothers Quay verrät durch alle Ritzen ihre Gemachtheit. Sie erbauen ihre Welten auf der Grenze zwischen lähmendem Stillstand und rasender Bewegung – darum ist die Stop-Motion-Animation auch das kongeniale Medium ihrer Kurzfilme. Denn Stop-Motion setzt etwas in Bewegung, das unbewegt ist: Puppen, tote Wesen, Gegenstände aller Art. Eine Welt der Dinge wird zu Bewegung und Leben befreit. Umgekehrt ist aber auch die Anstrengung der Belebung nicht aus dem Bild zu tilgen. Der Animationsfilm macht das Verfahren sichtbar, das der Illusionsmaschine Kino zugrunde liegt, die eine belebte und bewegte Welt unsichtbar zerstückelt und wieder zusammensetzt mit Hilfe einer aufwendigen technischen Apparatur. Und die Quays setzen noch einen drauf, indem sie die Kamera stets zum Akteur sui generis machen, indem sie in Fahrten und Schwenks den Blick sich verselbständigen lassen zwischen den untoten Dingen und Puppen.

Der Stop-Motion-Animationsfilm hat ganz ausdrücklich ein prekäres Verhältnis zu Leben und Tod. Er macht, wenn er will – und die Brothers Quay wollen es immerzu –, das Anorganische organisch und das Organische anorganisch. Die Umkehrung, die Metamorphose, Wandlungswunder aller Art sind im Animationsfilm ein Leichtes. Vor der Mühsal, das Unbewegte von Hand und Einzelbild für Einzelbild in Bewegung zu setzen, sind Organisches und Anorganisches gleich: Schrauben, die sich wie von Geisterhand drehen, Watte, die aus Köpfen halb lebender, halb toter Puppen dringt. Das sind nur ein paar Leitmotive eines Werks, das nicht im einzelnen Film zum Abschluss drängt, sondern, sich immerzu wandelnd und sich immer ähnlich, zur Quay-Wirklichkeit zusammenwächst.

Und dazu als Konterpart die Musik. Sie liegt den Bildern, den dialogfreien Animationen zugrunde, die zur im Vorhinein ausgewählten Musik komponiert werden. Musik von Karlheinz Stockhausen in „In Absentia“ (2000), immer wieder Musik des Komponisten Lech Jankowski, aber auch kurze Filme zur Musik der Band „His Name is Alive“. Reich, fremd, unheimlich ist die sehr eigene Welt der Brothers Quay. Die nun veröffentlichte, in enger Zusammenarbeit mit den Quays entstandene 2-DVD-Edition lässt wenig zu wünschen übrig. Sie versammelt nicht nur die glänzend neu gemasterten Kurzfilmklassiker, sondern auch Interviews, Kommentare, Alternativversionen, Einblicke aller Art.

EKKEHARD KNÖRER

„Quay Brothers – Die Kurzfilme 1979–2003“. Doppel-DVD, erschienen bei absolut Medien (www.absolutmedien.de), 29,90 €