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Archiv-Artikel

Nägel in der Landschaft

Washington D. C.

Weniger Crack, weniger Morde, weniger Schießereien – die US-amerikanische Hauptstadt wandelt sich seit Anfang der Neunzigerjahre von einer Stadt mit Anspruch auf den zweifelhaften Titel „murder capital“ hin zu einer hochpreisigen Yuppiestadt. Das deutlichste Zeichen des Aufbruchs setzte 1994 ausgerechnet der schwarze Bürgermeister Anthony Williams. Er verkündete damals den Neubau eines 500 Millionen Dollar teuren Sportstadions. Das Megaprojekt ist Teil eines Masterplans, der zum Ziel hat, die demografische Zusammensetzung der Stadtbevölkerung nachhaltig zu verändern. Williams setzte seine Unterschrift unter einen Plan, der die schwarze Arbeiterklasse aus der Stadt verdrängen und eine wohlhabende weiße Mittelschicht in die Innenstadt locken sollte.

Das Stadion wurde nach zahlreichen Verzögerungen vergangene Woche eröffnet. Kommende Woche soll darin Papst Benedikt XVI. seine erste Megamesse lesen. Und wer dabei kaum zu finden sein wird, sind die einstigen schwarzen Bewohner des nahe den Hafenanlagen gelegenen Stadtviertels, das dafür platt gemacht wurde.

Auch eine andere feste Adresse schwarzen Lebens im District of Columbia wechselte in den vergangenen Jahren die Farbe. Entlang der legendären „U Street“, in den 1920er bis 1960er Jazz- und Entertainment-Korridor schwarzer Künstler wie Duke Ellington, sprießen zurzeit neue Bars und Gourmet-Restaurants wie Pilze aus dem Boden. Die Kundschaft ist weiß. Bis vor wenigen Jahren war die U-Street eine No-go-Area für Weiße und fest in der Hand schwarzer Crack-Dealer und Straßengangs. Die bewaffneten Aufstände nach der Ermordung Martin Luther Kings 1968 hatten die U-Street zu einer Front im Krieg der Rassen werden lassen. Sie war folglich von den Segnungen der Stadtförderung gründlich ausgenommen worden.

In den letzten Jahren wurden knapp 30 Milliarden Dollar in Washingtoner Entwicklungsprojekte investiert, von Loftwohnungen bis hin zu Shoppingzentren. Washington gilt trotz der Wirtschaftskrise als einer der heißesten Immobilienmärkte der USA – ein Tummelplatz garantiert ohne Geringverdienende. Die werden immer weiter ins Umland verdrängt. ADRIENNE WOLTERSDORF

Die Vorbereitungen für die Olympiade haben Wohnraum in Peking rar gemacht. Fitnessstudios und Coffee-to-go-Shops verdrängen die Familienhäuser. Man braucht aber keine Festspiele, um Unerwünschte aus der Innenstadt zu schmeißen, wie man am Beispiel Washingtons sieht. Geschichten der globalen Gentrifizierung

VON SAM WILD

Geografisch gesehen trennen Peking und Washington 11.000 Kilometer Land und Wasser. Ideologisch gesehen trennt die Hauptstädte der mächtigsten Nationen eine ganze Welt. Aber wenn man ins Detail geht, dann gibt es überraschend viele Gemeinsamkeiten: Peking wie Washington sind vom Goldrausch erfasst. Auf einmal sind die lange vernachlässigten Stadtzentren begehrter Wohnraum geworden. Investoren treiben die Preise in die Höhe und die bisherigen Bewohner aus ihren Häusern. Ob Volksrepublik oder präsidiale Bundesrepublik – das Geld regiert.

Doch selbst das härteste Regime hat Risse. In China wehren sich Menschen dagegen, entwurzelt zu werden, nur weil die Regierung ihre Heimat zu anderen Zwecken nutzen will. Für den Widerstand gegen die Politik stehen hier die „Nägelhäuser“, so nennt man hier die Gebäude, die stehen blieben, auch wenn um sie herum alles umgepflügt wurde. Wie ein Nagel stechen sie aus der Landschaft heraus und zeigen weithin sichtbar, dass man ihre Besitzer nicht bestechen kann. Die Regierung schreckt vor brutaleren Mitteln zurück, da die Nägelhäuser viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen und eine gewaltsame Räumung Massenproteste auslösen könnte.

Nirgendwo ist die Gier nach Land größer als in Peking: In der ewig wachsenden Stadt steigt der Wert des Grundbesitzes um 15 Prozent pro Jahr. Familien, die seit Generationen in den typischen engen Häusern leben, in denen alle Räume um einen Hof herum gruppiert sind, sind von der explodierenden Stadtentwicklung bedroht.

Das System aus kleinen Gässchen, den Hutongs, hat seit den Zeiten der mongolischen Invasion im 13. Jahrhundert das Stadtbild geprägt. Das komplexe Netzwerk ist Heimat für Millionen von Pekingern, doch trotz des menschlichen und historischen Wertes scheint sich die Regierung nicht dafür zu interessieren, die Lebensweise der Menschen in den Hutongs zu schützen.

„Es gibt Familien, die lebten seit zweihundert Jahren hier, und dann hat man sie einfach zehn Kilometer weiter, jenseits der fünften Ringstraße, geschickt“, erklärt David Carini. Der selbständige Unternehmensberater ist vor acht Jahren aus den USA nach China gekommen. In flüssigem Mandarin unterhält er sich mit den Bewohnern der Hutongs, deren volle enge Gassen er gerne besucht.

„Die Hälfte der Hutongs ist schon erschlossen worden“, erzählt Carini, als wir durch Nan Luogu Xiang schlendern, eines der jüngsten Renovierungsprojekte in Pekings Zentrum. Die Menschen, die hier leben, teilen sich nun den Platz mit einem Ansturm von Touristen, die sich von ihrem Ausflug in den neuen amerikanisierten Cafés mit Cappuccino, Latte mit Geschmack und Wifi erholen. Kinder spielen auf den Stufen vor dem Haus ihrer Eltern, und alte Männer spielen Mahjong, die chinesische Variante von Domino. Hier ist es ruhig und idyllisch, ganz anders als in den großen Verkehrsstraßen ein paar Ecken weiter.

„Diese Mischnutzung ist wirklich die einzige Möglichkeit, wie man die Hutongs überhaupt erhalten kann“, sagt Carini. „Mit ein paar hippen Bars und anderen In-Läden bringt die Gegend mehr Geld ein, und man wird sie zu etwas entwickeln, in dem der Grundbesitz teuer genug ist, damit man die gewachsenen Viertel nicht völlig zerstören muss.“ Als Carini das sagt, stehen wir gerade vor einem nagelneuen hohen Gebäudekomplex, den man mitten in das Viertel hineingebaut hat.

Ein paar Kilometer weiter in Jian Gùo Men lebt Shi Lai, wie wir sie zu ihrem Schutze nennen, und ihre 20-jährige Tochter Shushuang. Die Luft hier kann man anfassen, so dick ist sie von all den Abgasen der Autos und dem Staub der vielen Baustellen. Shi Lai und ihre Tochter werden ausziehen müssen. Eine Geschichte, wie so viele in dieser Stadt.

Shi Lais Zuhause ist ein schöner Block aus den Dreißigerjahren, auf den Bauunternehmer in riesigen weißen Lettern „Abreißen“ geschmiert haben. Hier entsteht ein Hochhauskomplex mit Pförtner und Wellnessbereich für die Gäste der Olympiade.

„Die Gegend ist attraktiv“, sagt Shi Lai, das Haus liegt in der Nähe der U-Bahnstation, hier gibt es Kioske, Krankenhäuser, Schulen. Wer außerhalb wohnt, muss auch die gesamte Infrastruktur hinter sich lassen. Er muss bisweilen eine halbe Stunde laufen, um eine Zeitung zu kaufen.“ Ein kompliziertes System sorgt dafür, dass, auch wenn Shi Lai de facto ihr Haus gekauft hat, die Regierung trotzdem noch das Recht hat, das Land zu verkaufen. „Sogar wenn man mal von allen nostalgischen Gefühlen absieht, davon, dass der Umzug meinen ganzen Alltag radikal verändern wird, bleibt immer noch der finanzielle Verlust, den wir durch den Verkauf dieses Hauses erlitten haben“, sagt ihre Mutter. Pekinger zu sein, muss man sich leisten können.

Auf der anderen Seite der Welt, mitten in Washington, gibt es zwar keinen historisch wertvollen Stadtkern, aber auch im sozialen Wohnungsbau der Washingtoner Viertel lebten einmal Leute, die gerne weiter hier gelebt hätten. Washington wird von seinen schwarzen Einwohnern „Chocolate City“ genannt, denn in der Hauptstadt gab es einst den höchsten Anteil schwarzer Amerikaner der USA. 90 Prozent waren es in den frühen Neunzigern. Jetzt „regeneriert“ sich die Innenstadt, wie offizielle Stellen es nennen, und so erlebt die zweihundert Jahre alte Schokoladenstadt die „Vanillisierung“.

Der aufs Genaueste gestylte Rasen von Washingtons National Mall, der Landschaftspark, der das Weiße Haus umgibt, ist nur einen Block entfernt von Arthur Capper’s, einer kleinen nachbarschaftlichen Wohnsiedlung, die in den Fünfzigerjahren angelegt wurde. Im Oktober 2001 erhielten hier die Bewohner von 760 Häusern eines Morgens einen Brief der District of Columbia Housing Authority: Die Regierung hatte Investoren 424 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt, um die Gegend komplett zu sanieren und das Wohnviertel mit Bürogebäuden anzureichern. In den nächsten Monaten sollten alle Bewohner ihre Wohnungen verlassen haben. Die überraschten Mieter und Hauseigentümer erreichten mit ihrem Widerstand lediglich ein bisschen Aufschub: Im Herbst 2003 wurden vierhundert Familien und weitere dreihundert Senioren aus ihren Wohnungen vertrieben – viele von ihnen mit Gewalt. Das Sanierungsprojekt nennt sich Hope VI, Hoffnung Nummer sechs, eine staatenübergreifende Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Ghettos aufzulösen und die ehemaligen Bewohner in heterogenen Gegenden anzusiedeln, wo die gesellschaftlichen Strukturen stärker durchmischt sein sollten. Die Bewohner von Arthur Capper’s wurden überall in der Stadt verstreut. Mit dem Versprechen, ihr Umzug sei nur vorübergehend. Fast fünf Jahre später ist den meisten von ihrer alten Heimat nur noch Dreck und ein paar Steine übrig geblieben. Nicht eine einzige Familie konnte bislang nach Arthur Capper’s zurückziehen.

Um die zweihundertfünfzig Familien haben den Kampf nicht aufgegeben. Sie haben sich in einer Gruppe organisiert, den „Friends and Residents of Arthur Capper’s“, zuerst hatten sie sich gegen die Massenumsiedlung gewehrt, und seit das gescheitert ist, versuchen sie ihren Rückzug zu erstreiten.

Debra Frazier ist eine der Vorkämpferinnen dieser Gruppe. Eine energische Frau, deren Erscheinung auf den ersten Blick klarstellt, dass man sie sich besser nicht zur Feindin macht. Debra Frazier ist unerschrocken und forsch. Jemand, der sich sein Leben lang in einer sozial schwachen Gegend behaupten musste und dessen Heimat man nun einfach ausgelöscht hat. Trotz der endlosen Diskussionen und der immer wieder neuen enttäuschten Hoffnungen ist ihr Kampfgeist ungebrochen. Wenn sie spricht, scheint sie zu singen. In ihrer tiefen heiseren Stimme trägt sie die Geschichte ihrer Schlachten vor wie einen uralten Kampfgesang. Das alte Epos der Erniedrigungen der Armen durch die Reichen, der Schwarzen durch die Weißen.

Über ihren Kampf ist Debra Frazier krank geworden. Ihre dünnen Gliedmaßen lassen sie älter scheinen, als sie ist, und eine ungestillte, doch hoffnungslose Sehnsucht schwingt in ihrer Stimme mit, wenn sie von der Heimkehr nach den Irrfahrten spricht. „Das ist meine Gegend, das ist meine Stadt, sie werden mich hier nicht rausschmeißen. Niemals. “

„Die DC Housing Authority hat die Gelder von Hope VI nur unter der Bedingung erhalten, dass die sozial schwachen Familien wieder hierhin zurückkehren dürfen“, erklärt sie. „Aber wir hatten das Kleingedruckte nicht gelesen. Dort stand, dass ‚sozial schwach‘ ein Einkommen von umgerechnet 60.000 Dollar im Jahr bedeutet. Das Durchschnittseinkommen unserer Gemeinschaft ist 8.000 Dollar im Jahr. Wir sind ausgeflippt, als wir das herausfanden.“

Nur ausflippen hat die Gemeinschaft nicht gerettet, und Debra Frazier winkt nur noch müde ab, wenn sie an das entscheidende Treffen mit hunderten anderen ehemaligen Bewohnern und dem Geschäftsführer von DC Housing Authority, Michael Kelly, denkt. Das Treffen wurde gefilmt: Dort sieht man Debra Frazier mitten in der Menge, wie sie verzweifelt versucht, Aufmerksamkeit zu bekommen. Kelly ignoriert sie eine Weile erfolgreich und weigert sich, ihr das Mikrofon zu geben. Schließlich schreit sie ihren Protest durch den Saal, mit viel Zustimmung aus dem Publikum. Sofort schreiten Polizisten ein und zerren sie, unter aufgebrachten Rufen der Versammlung – „Lasst sie sprechen!“ –, aus dem Raum.

Wie Debra Frazier, so sind die meisten Schlüsselfiguren der Bewegung Arthur Capper’s Frauen, und so wie Debra Frazier waren sie einmal zäh, stark und widerständig. Doch als man ihre Nachbarschaft auseinanderriss und sie an den entlegensten Stellen der Stadt, weit weg voneinander, wieder ansiedelte, litt ihr Zusammenhalt. Das nachbarschaftliche Miteinander versuchen sie nun mühsam aufrechtzuerhalten, indem sie sich so oft wie möglich treffen. Mit den Häusern von Arthur Capper’s ist für die Bewohner eine ganze Kultur von Straßenkunst verloren gegangen. Wenn sich heute Kinder, Erwachsene oder Alte zum gemeinsamen Trommeln, Singen oder Tanzen treffen wollten, können sie nicht mehr wie früher einfach vor die Tür gehen. Heute muss man sich verabreden.

Peking

Peking war flach, grau und staubig – ein Dritte-Welt-Dorf rund um die verbotene Stadt. Das war vor zwanzig Jahren. Aber auch zehn Jahre später, bis zur Jahrhundertwende, hatte sich das Grundgefühl nicht geändert: Man lebte in einer Stadt am Rande der Wüste, das Klima war hart, im Winter wurde gefroren, im Sommer geschwitzt, die Fahrradwege waren lang, im Bus war es eng, aber es ging allen so. Selbst die Regierungsempfänge entbehrten noch jeden Luxus.

Heute ist Peking endlich das, was alle erwarten: die neue, frisch herausgeputzte Welthauptstadt des Ostens, auch wenn sie sich wörtlich übersetzt „Hauptstadt des Nordens“ nennt. Sie hat den Grauschleier abgestreift und ihre meisten Räume klimatisiert. Sie ist vom Fahrrad aufs Auto umgestiegen, hat Busse und Bahnen renoviert. Sie hat ihre Einwohnerzahl von 8 Millionen vor 20 Jahren auf 16 Millionen verdoppelt. Sie hat sich weit ausgedehnt und sich einen äußeren Ring glitzernd moderner Satellitenstädte angelegt. Vor allem aber hat sie sich ein neues Gesicht gegeben.

Es besteht aus jenen Wunderwerken westlicher Großarchitekten, die jetzt das Profil der Pekinger Skyline prägen. Zwei Türme, die schräg aufeinander fallen und sich gegenseitig abstützen: So kündet das neue Gebäude des chinesischen Staatsfernsehens CCTV, erschaffen von dem deutschen Architekten Ole Scheeren und seinem Partner Rem Koolhaas, von einer Stadtarchitektur der Ungeraden, wo alles in Bewegung ist und kein Stein auf dem anderen bleibt.

Ebenso monströs modern ist die neue Oper am Platz des Himmlischen Friedens. Sie wirkt durch ihre riesige ovale Form trickfilmreif: wie das Ei von Godzilla inmitten des alten kaiserlichen Pekings, welches das Ungeheuer eigentlich in das Vogelnest hätte legen müssen – das Vogelnest ist das neue Olympiastadion mit seinem wild verzweigten Gewebe aus Stahlträgern.

All diese Gebäude tragen so viel Wahrzeichencharakter für Pekings boomende Wirtschaft, für den allgegenwärtigen Wandel, dass Kaiserpalast und Himmelstempel als Symbole von der Oberfläche längst verschwunden sind. Nur die Touristen pilgern noch dorthin. GEORG BLUME

Anu Yadav ist von dieser Gemeinschaft und ihrem Schicksal fasziniert. Die junge indisch-amerikanische Dramatikerin hat ein Stück geschrieben, mit dem sie nun durch die Jugend- und Nachbarschaftszentren tourt, um den Menschen zu zeigen, was in Arthur Capper’s geschehen ist und was es bedeutet, wenn man von einem Tag auf den anderen seine Heimat aufgeben muss. Debra Frazier ist glücklich, dass jemand ihre Geschichte erzählt, nachdem ihr die Autoritäten nicht zuhören wollten. „Das war keine Demokratie“ sagt sie, „die Verantwortlichen hatten Angst vor uns, sie wichen uns aus, wir mussten schreien, um gehört zu werden.“

Die „Vanillisation“ begann als ein langsamer, aber sich ständig steigernder Prozess. Die ersten Anzeichen der drohenden Vertreibung waren die großen Verkaufsschilder, die auf einmal in den Gebieten auftauchten, in denen sonst nur mit Drogen gehandelt wurde. Zusammen mit den Dealern standen sie auf einmal vor den Häusern und lockten potenzielle Firmen mit ihren Angeboten in Millionenhöhe.

Ken, ein Grundstücksmakler, der seinen Nachnamen nicht nennt, erklärt, dass Washingtons Bürgermeister sich einfach nach den Bedürfnissen der Business Community richten musste,die brächte schließlich das Geld. Er steht auf einer der neu entstanden Straßen und preist die Vorzüge der Entwicklung: „Jetzt gibt es hier teure Restaurants, Supermärkte und Starbucks.“

Ein paar Monate nach unserem ersten Treffen sehen wir Debra Frazier wieder. Sie hat gute Nachrichten: Ein paar der älteren Ehemaligen haben nach fünf Jahren vergeblichen Wartens endlich ihren neu errichteten Wohnungen besichtigen können. Es kursiert das Gerücht, dass sogar noch mehr Häuser bald fertig wären und dass auch in die bald wieder Ehemalige einziehen dürften. Zusagen von offiziellen Stellen gibt es allerdings nicht.

Debra hat eine Versammlung mit den anderen Aktivisten einberufen. Man feiert die Neuigkeiten, aber hat auch ein bisschen Angst vor der Zukunft. „Unsere Gemeinschaft wird nie mehr das sein, was sie einmal war“, beklagt eine füllige Frau. „Wenn ich mal ein paar Tage nicht auf der Straße zu sehen war, kam früher immer einer meiner Freunde, um nach mir zu sehen. Wir passen aufeinander auf. Das ist Gemeinschaft. Unverkäuflich und unbezahlbar.“

In der Erinnerung ist Arthur Capper’s ein Paradies der Menschlichkeit. Debra Frazier scheut kein Pathos: „Das ist Blut, das ist Schweiß, das sind Tränen“, deklariert sie. „Gemeinsam werden wir gewinnen! Eines Tages kommen wir alle zurück und dann werden wir uns in unseren eigenen Häusern wieder versammeln, so wie heute. Wir werden in Arthur Capper’s sein, Hausbesitzer und Mieter werden wir sein, wir werden da sein. Das ist unser Leben. Das haben wir uns verdient. Wir geben niemals auf.“

In Peking steht David Carini vor einer Kreuzung in der Nähe des Nan Luogu Xiang Hutong. Er blickt skeptisch auf eine Baustelle, wo früher eines seiner Lieblingsrestaurants war. „Ein paar der Menschen wurden von den Unternehmern fair für ihren Besitz bezahlt“, sagt er. „Aber eine große Masse konnte nur durch illegale Mittel zum Umzug gebracht werden: Mit finanzieller und körperlicher Gewalt.“ In Jian Gùo Men haben Shi Lai und ihre Tochter Shushuang ihre Taschen gepackt. Sie schauen zum letzten Mal durch alle Räume, dann verlassen sie das Haus. Auf dem Weg zur U-Bahn schauen sie auf den Boden, sie weichen den Pfützen und dem Dreck aus – ebenso wie den fragenden Blicken der Nachbarn.

Aus dem Englischen: Judith Luig SAM WILD, Jahrgang 1971, ist freier Journalist und lebt in London. Über den Kampf um Arthur Capper’s hat er einen Film gedreht www.choc-city.org