: Die jämmerlichen Helden von 1968
Haben sie die Republik verändert oder waren sie nur die Kinder der Flakhelfer-Generation, die das autoritäre Syndrom ihrer Väter reproduzierten? Götz Aly, Historiker und Autor von „Unser Kampf“, und Daniel Cohn-Bendit stritten über die Rolle der „Achtundsechziger“ in der deutschen Geschichte
VON KLAUS WOLSCHNER
Es war so schön gemütlich geworden im rückblickenden Selbstverständnis der inzwischen ergrauten Alt-68er. Viel Kurioses wurde damals gedacht und getan, manch Verwerfliches auch – aber die Republik wurde verändert und das nachhaltig. Unter dem Strich also eine positive Bilanz, mit der sich der Rente gut entgegen sehen lässt.
Dieses Selbstbild kann Götz Aly, selbst „68er“ und einst bei den Berliner „Roten Zellen“ radikalisiert, auf die Palme bringen. Seit über 20 Jahren forscht Aly über die Geschichte des Nationalsozialismus. Eine Streitschrift habe er nun geschrieben, sagt er selbst, mit „Unser Kampf“ als dem bösen Titel. Und der volle Festsaal im Haus der Bremischen Bürgerschaft zeigte am Donnerstagabend, dass viele aus der Generation der Alt-68er offenbar doch neugierig sind, mit welchen Argumenten er ihren trügerischen Frieden stört, dieser Götz Aly.
Kein Satz von Rudi Dutschke lohne heute noch zitiert zu werden, sagt Aly, und das damalige „Kursbuch“, ein Bestseller in den wilden Jahren, sei, heute gelesen, nur noch peinlich. Was Aly besonders aufs Korn nimmt, ist das, was er als schnelle Wandlung der antiautoritären Revolte zu einer totalitären, antisemitischen Ideologie sieht, zu einer nach innen und außen gewalttätigen Praxis. Alys Antwort auf die Frage, wie das sein konnte: Die Helden von 68 waren die Kinder der Flakhelfer-Generation. Vor der Auseinandersetzung mit ihren Vätern flüchteten sie in einen allgemeinen Antifaschismus und rückten die USA, von denen die Väter besiegt worden waren, in die Nähe der SS.
Sie seien „Kinder einer frierenden Generation“ gewesen, so Alys These, und hätten nach 1968 in Wirklichkeit nur deren autoritäres, demokratiefeindliches Erbe ausgelebt. Den jüdischen Emigranten, die nach Deutschland zurückgekehrt waren, fielen die Parallelen zwischen der Studentenbewegung der Nazis in den Jahren vor 1933 und der Studentenbewegung von 68 auf. Alys Fazit: Die 68er haben das Problem der jungen Bundesrepublik und ihrer NS-Vergangenheit nicht gelöst, wie sie selbst meinen, sondern sie waren vielmehr Teil des Problems. Ihre Pamphlete zählt Aly daher zum „totalitären Schrifttum“ des 20. Jahrhunderts.
Es war die Idee der grünen Europa-Abgeordneten Helga Trüpel, den Autor dieser in den vergangenen Wochen viel diskutierten Position mit dem eloquenten Denkmal des Pariser Mai 1968, Daniel Cohn-Bendit, zu konfrontieren. Dieser kam direkt von einem Treffen mit Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy nach Bremen. Er teilt das Bedürfnis, den ärgsten Gegnern ins Auge zu sehen und sich zu fragen, wo sie vielleicht Recht haben. Aber Aly geht da für seinen Geschmack zu weit. „Wenn du sagen würdest: Ich war damals ein Arschloch, fände ich das okay“, sagt er zu Aly; dass aber dessen biografisches Urteil über sich selbst keines über die 68er insgesamt sein könne.
Für Cohn-Bendit überwiegt die Kontinuität zwischen 1968 und dem, was er heute politisch tut. Er hat nie eine antisemitische Position bezogen, war immer auf der Seite der Freiheit im Machtbereich des osteuropäischen Realkommunismus und als bekennender „Hedonist“ den autoritären Versuchungen nie zugänglich. Zudem, sagt Cohn-Bendit über die deutsche Interpretation der maoistischen Wende der Studentenbewegung, gab es in Frankreich die selben autoritären Strukturen, und sie entstanden aus der Revolte im Mai 68 sogar noch früher als in Deutschland. Und auch den Antisemitismus: 1972 begrüßte Jean-Paul Sartre öffentlich Anschläge auf die israelischen Olympiateilnehmer in München. Alys Bezugnahme auf die deutschen NS-Väter, so Cohn-Bendit, bediene doch nur den deutschen Wunsch, „etwas ganz Besonderes“ zu sein.
Zuleich stimmt Cohn-Bendit allerdings der Analyse zu, dass in den einstigen „Achsenmächten“ des Zweiten Weltkrieges – Deutschland, Italien und Japan – die Studentenbewegung gewalttätiger und ideologisch verbohrter endete. Ausgerechnet die Erzfeinde dieser Studentenbewegung wiederum – Adenauer und de Gaulle – hätten die Versöhnung der alten Erbfeinde Deutschland und Frankreich vorangetrieben und damit die Grundlagen für ein neues Europa gelegt. Cohn-Bendit ist heute Fraktionsvorsitzender der Grünen im EU-Parlament.
Fast wäre es doch versöhnlich geworden im Streit der beiden „Helden von 1968“, hätten nicht die Zuhörer mehrfach darauf hingewiesen, dass es neben den ideologisch vernagelten Köpfen in den Zentren der Bewegung auch viele kleine Mitläufer in der Provinz gegeben habe. Die nicht von der Machtergreifung mit Mao-Bibel in der Hand geträumt hätten, sondern stattdessen die Liberalisierung der Gesellschaft betrieben: Zehn Jahre nach 1968 war die Republik übersät von Bürgerinitiativen, die sich als „außerparlamentarisch“ verstanden. In der Tradition der 68er-Bewegung und bereicherten sie die Bundesrepublik um eine lebendige, außerinstitutionelle Demokratie-Tradition bereicherten. Diese Bürgerinitiativen-Kultur wurde damals von den Helden von 68 belächelt und nicht verstanden, sondern vielmehr bekämpft. Verändert hatte sich auch die Sozialdemokratie, die viele 68er so gern als „sozialfaschistisch“ etikettierten.
Es muss also in dem Impuls von 1968 etwas anderes gesteckt haben als das, was Aly bei den großen Protagonisten offen legt. „Die emotionale Auseinandersetzung war richtig, die Sprache war falsch“, versucht Cohn-Bendit nun in Bremen die Ambivalenz zu beschreiben. Diese Differenzierung erklärt allerdings nichts: Die „richtigen“ Gefühle konnten sich nur in der Radikalität der Aktion entladen, weil sie durch die „falsche“ Sprache zu welthistorischer Bedeutung aufgebauscht wurden. Götz Aly macht solche Differenzierungen nicht – zu Recht.
Die Radikalisierung von Gefühl und Sprache lässt sich andererseits nicht nachvollziehen, wenn man die Erfahrung der staatlichen Gewalt ausblendet, die ein Motor der damaligen Radikalisierung war. Die Phantasien von Weltrevolution waren eine Krücke, um die Ohnmacht zu überwinden. Zwischen den Gründungen diverser kommunistischer Weltrevolutions-Parteien und der RAF liegen eben keine Welten. Von der staatlichen Gewalt hat sich die Revolte in absurde Sackgassen treiben lassen.
Als Die Rote Fahne den Rücktritt der sozialliberalen Regierung Brandt/Scheel 1974 mit der Schlagzeile kommentierte: „Das Gespann der Volksfeinde wird ausgewechselt“, dokumentierte sie damit, wie weit die führenden Köpfe der 68er sich schon entfernt hatten – entfernt von der Realität der durch ihren Impuls lebendig gewordenen Zivilgesellschaft.