Ungehemmt im Grünen

Das Picknick ist der Wunsch, von der Natur Freiheit zu lernen. Ausstiegssehnsüchte und erotische Fantasien bargen sich im Essen auf der Wiese. Kritik eines bukolischen Glücks

VON TILL EHRLICH

Denk ich an Picknick, schmerzt mir der Rücken. Mein letzter Imbiss im Freien war auf der großen Wiese vorm Reichstag, als er von Christo verhüllt war. Der Abend war dämmrig und stickig, wir hatten einen schweren Fresskorb mitgeschleppt und uns auf einer Ameisenstraße niedergelassen.

Natürlich bemerkten wir es erst, als es zu spät war und der Knöchel bereits heftig anschwoll. Mit dem linken Fuß trat ich in eine Schüssel mit Nudelsalat und glitschte fast aus in der schmatzenden Mayonnaise. Meine Nachbarin schälte ewig ein hart gekochtes Ei, verkrümelte die Eierschalensplitter auf der Decke und stieß dann mit dem Ellbogen einen Plastikbecher mit lauwarmem Prosecco um. Meine Hose hatte nasskalte Grasflecken, und die Plastikgabel, mit der ich den Nudelsalat zu essen versuchte, war angeknackst. Dann begann es zu nieseln.

Es war ein unvergesslicher Abend und eine schlaflose Nacht, und mir ist in meinem Bekanntenkreis niemand bekannt, der damals nicht vor dem umhüllten Reichstag gepicknickt hätte. Vom Imbiss in Schlamm und Dauerregen beim „Taubertal Open Air“-Rockfestival nahe Rothenburg ob der Tauber möchte ich lieber gar nicht erst reden. Picknick kommt von Piesacken.

Die Lust, am Boden und im Freien zu essen, ist eine alte, doch so richtig en vogue wurde sie wohl erst im 18. Jahrhundert. Das Spätrokoko soll besessen vom Piquenique gewesen sein. Der französische Adel pilgerte in den Wald, man verlegte den höfischen Salon in die Natur, machte den Waldboden zur Tafel, und die Dienerschaft musste das Interieur herbeischleppen: Decken aus venezianischem Seidendamast und Terrinen, edlen Wein, gebratenen Fasan, raffinierte Pasteten, kalten Hummer, Schinken, exotische Früchte, Sahnetorten, Pralinen, Cremes und Fruchtgelees.

Das höfische Picknick im Wald und auf der Wiese war der Ausdruck einer Naturschwärmerei als Sehnsucht nach Unbeschwertheit und Sorglosigkeit – Sanssouci. Man wollte von der Natur Freiheit lernen, gab sich befreit von Tischsitten, -regeln und Etikette, zugleich war man nicht bescheiden.

Sorglos wie ein Hirte wollte der Hofstaat in der Natur tafeln, freilich ohne auf den gewohnten standesgemäßen Luxus verzichten zu müssen. Man ließ kostbare Reiseservice aus Porzellan, Bleikristall und Silber anfertigen, die, in edlen Samt eingepackt, in großen Truhen ins Grüne geschafft wurden. Man feierte bukolische Abende auf der Wiese mit Harfen- und Flötenmusik, schleppte dafür Lüster und Windlichter aus Kristall in den Wald, stellte Schaukeln auf, nötigte die Damen zum Schaukeln, auf dass ihre Röcke hochgeweht wurden. Man wollte schließlich nicht nur erhabene Ausblicke in die schöne Landschaft, sondern Einblicke haben – freie Sicht unter die Röcke und auf die Beine der Damen.

Die Ungehemmtheit im Grünen war das heimliche Ideal. In diesem Sinne wurde das Picknick des französischen Adels als bukolisches Dejeuner im Grünen inszeniert und zelebriert. Das Bukolische und Bäuerliche wurde idealisiert, was freilich auf einem bizarren Missverständnis beruhte. Die Superreichen des Spätrokoko beneideten die Bauern um ihr scheinbar sorgloses Leben. Ein zynisches Bild: Viele Bauern hungerten wegen der Steuern, mit denen die Aristokratie ihren Luxus finanzierte.

Als Ausflug zur Mahlzeit im Freien adaptierte das aufgestiegene Bürgertum im 19. Jahrhundert das höfische Picknick. Freizügige Picknicks waren in ganz Europa beliebt, besonders bei der Künstlerboheme. Hier speiste man weniger dekadent als einst der Adel, bevorzugte Herzhaftes wie Wurst, Schinken und Brot. Man wollte vor allem essen, um viel trinken zu können, um seine Hemmungen rasch zu verlieren. Auch die leichten Damen gehörten meist zum Picknick dazu.

Franz Schubert soll sich in Wien bei einem Picknick im Grünen mit Syphilis infiziert haben. Und das wohl bekannteste Bild zum Thema, Èdouard Manets „Le déjeuner sur l’herbe“, eröffnet voyeuristisch eine allzu idealisierte Sicht auf das intime Mahl und die Damen, doch man fragt sich, wo die Mücken und Ameisen sind.

Das mitteleuropäische Picknick ist eine eigene Kultur; dazu gehört der Fleischspieß, der in der Glut des Lagerfeuers gegart wird, weil das wunderbar duftet, Appetit macht, schön salzig und fetthaltig ist und zum Trinken animiert. Auch das hart gekochte Ei und ein kaltes Hühnerbein sind meist mit von der Partie. Ganz typisch ist, dass jeder etwas zum Picknick beiträgt, was aus kulinarischer Sicht wohl eher Unsinn ist. Jeder bringt eine Schüssel mit. Am Ende gibt es ganz viele Schüsseln, die in der Regel nicht zusammenpassen, weil die Speisen und Salate eben nicht aufeinander bezogen und abgestimmt sind. So gibt es dann etwa fünf verschiedene Kartoffelsalate, vier Bohnensalate und sechs einzige Frühlingsröllchen für zehn Freunde.

Ein Monsieur Piquenique soll dieser Urform des Picknicks seinen Namen gegeben haben, wobei es sich noch um exklusive Männergesellschaft, ohne Damen, handelte. Es waren geheime Gastmahle, zu denen jeder eine Speise mitbrachte. Sie fanden jedoch nicht im Freien, sondern hinter geschlossenen Türen statt.

Auch das Picknick des englischen Adels wird ursprünglich wohl ein geschlossener Männerclub gewesen sein, allerdings im Freien. Im Gegensatz zum kontinentalen bukolischen Dejeuner geht es beim englischen Picknick weniger um ungehemmte Liebe in freier Natur, sondern um das Sportive, den gemeinsamen Ausritt in die Natur, Pferderennen und Ballspiele wie Rounders oder Schmetterlingssammeln, mit der Schmetterlingstrommel auf dem Rücken. Und es geht um die gemeinsame Stärkung danach, also in einer Runde auf einer karierten Tweedmilldecke zu sitzen und dabei Sandwichs, Shortbread oder Scones in sich hineinzustopfen und mit Tee aus der Thermoskanne herunterzuspülen.

Auch der Picknickkorb ist englisch. Aber das heute populärste Picknickutensil ist nicht englisch. Herr Tupper war Amerikaner. Spätestens seit dem 20. Jahrhundert wird das Picknick mit dem Ausflug verbunden, als eine urbane Fluchtbewegung und Melange, die bis heute populär ist. Das Picknick im Grünen nach einer Fahrt mit dem eigenen Wagen wurde nicht erst in der Wirtschaftswunderzeit populär, die Nazis hatten es zuvor schon propagiert: Ausstiegswünsche, Naturschwärmerei und Sehnsucht nach dem unreglementierten modernen Leben wurden ebenso demagogisch wie verführerisch zusammengekocht. Dazu gehört das propagierte Klischee vom kleinen Glück beim familiären Picknick auf der grünen Wiese an der Reichsautobahn nach der Fahrt im eigenen KdF-Wagen.

Dagegen wollte die höfische Sehnsucht nach bukolischem Glück und Hirtenromantik mit Schäferstündchen im Spätrokoko noch erotischen Träumereien nachgehen. Fantasien von freier Liebe in freier Natur unter freiem Himmel. Vielleicht begann hier das, was in der Hippie- und Alternativbewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre einmal zum Slogan von freier Liebe in freier Natur – Open Air – werden sollte.

In der Lebensreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die befreite Nacktheit in der Natur schon einmal entdeckt und idealisiert, allerdings indem die Erotik der Nacktheit keusch verleugnet und stilisiert wurde zu einem Stück „reiner Natur“ bar aller Triebhaftigkeit. Dies mündete später in den völkischen Körperkult, aber auch in die FKK-Kultur, die besonders offen und ausgiebig in der DDR praktiziert wurde. Allerdings: Wer mit seiner Familie zwischen Schüsseln mit kaltem Schnitzel, Kartoffelsalat, Würstchen und roter Grütze nackt auf der Wiese sitzt, muss in ein Dilemma geraten. Das Auge isst mit und hat es bald satt.

TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, serviert einmal im Monat die taz-Sättigungsbeilage