: Alles neu macht der Mai
Der friedliche 1. Mai 2008 in Kreuzberg ist der vorläufige Höhepunkt eines längeren Prozesses
AUS BERLIN FELIX LEE UND DENIZ YÜCEL
Fünf Demonstranten stehen vermummt vor einem Trupp gepanzerter Bundespolizisten. Sie beschimpfen die Beamten. Aus dem Demonstrationszug fliegt ein Farbbeutel auf sie, der sein Ziel nur knapp verfehlt. Ein anderer Demonstrant mischt sich beschwichtigend ein: „Lasst euch doch nicht von den Bullen provozieren“, sagt er. Die Demonstranten ziehen weiter. Obwohl die jungen Männer zumindest gegen das Vermummungsverbot verstoßen haben, greifen die Polizisten nicht ein.
Was vor wenigen Jahren noch die berühmten Mai-Krawalle in Berlin-Kreuzberg ausgelöst hätte, lässt die Einsatzkräfte inzwischen kalt. Offenbar bewertet die Polizei einen solchen Vorfall als vernachlässigbar und riskiert deswegen nicht, dass die Stimmung umkippt.
Es sei gelungen, einen weitgehend friedlichen Ersten Mai in Kreuzberg zu gewährleisten, bilanzierte denn auch am Freitag Berlins Polizeisprecher Bernhard Schodrowski. Und tatsächlich: Während Hamburg am Donnerstag die schwersten Maikrawalle seit Jahren erlebte, blieb es in Kreuzberg friedlich wie nie zuvor in den vergangenen 21 Jahren.
Ein Grund könnte der Polittourismus einiger Berliner Autonomer sein. Etwa 150 von ihnen zählte der Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD), die zu den Protesten gegen den Neonazi-Aufmarsch in Hamburg gereist waren. Einer von ihnen ist Theo*, ein Endzwanziger, der früher zu Organisatoren der Kreuzberger Mai-Demo gehörte. „Das politische Anliegen der sogenannten Revolutionären 1.-Mai-Demo in Kreuzberg ist mir völlig unklar“, sagt er der taz. In Berlin gehe es allein darum, eine „linke Einheitsfront“ zu zeigen, die es in Wirklichkeit gar nicht gebe, weil die politischen Differenzen viel zu groß seien. In Hamburg war für ihn die Lage anders: Da habe es einen klaren Gegner gegeben und einen klaren Auftrag, nämlich die Nazi-Demo zu verhindern. „Da ging es um was, und man konnte nichts falsch machen.“ Hannes*, ein anderer Berliner Antifa gleichen Alters, ergänzt: „Wenn es die Antifa-Demo in Hamburg nicht gegeben hätte, hätte ich mich in Kreuzberg zurückgehalten. Das ist sinnlos und gefährlich.“ In Hamburg hingegen sei die Militanz nicht von Betrunkenen ausgegangen, sondern von organisierten Gruppen, die genau wüssten, was sie täten.
Doch damit dürften die beiden zu einer Minderheit in der Berliner linken Szene gehören. Denn in Kreuzberg waren es 10.000, die in den frühen Abendstunden an der „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration“ oder den anderen politischen Aufzügen an diesem Tag teilnahmen.
Dieser Mentalitätswechsel ist keineswegs ein neues Phänomen, sondern Ergebnis eines jahrelangen Prozesses. Daran mitgewirkt haben sowohl Kommunalpolitiker und Polizei als auch Anwohner und Demonstranten. „Hier hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit Gewalt kein Blumentopf zu gewinnen ist, sondern Krawalle im Gegenteil zu einer Entpolitisierung des 1. Mai beitragen“, bewertet der linke Politologe Peter Grottian diese Entwicklung. Vor sechs Jahren hatte angeregt, der alljährlichen Randale ein „politisches Straßenfest“ entgegenzusetzen. Die Polizei sollte im Gegenzug an diesem einen Tag dem Kiez fernbleiben.
Doch damals waren die Beteiligten noch nicht bereit. Die Polizeileitung und der von CDU und SPD geführte Senat lehnten eine Zurückhaltung der Polizei ab, viele Autonome wiederum bezeichneten Grottians Vorschlag als Befriedungsstrategie. Unbekannte zündeten sein Auto an.
Doch bereits im darauffolgenden Jahr griff die Bezirksregierung die Idee auf. Mithilfe der Anwohner organisierte sie das erste „Myfest“. War bei vielen Kreuzbergern viele Jahre lang so etwas eine mehr oder minder klammheimliche Freude bei den Krawallen zu verspüren, wurde bei den Vorbereitungen des Straßenfestes klar, wie viele Anwohner doch die Nase voll hatten von den brennenden Autos und Mülltonnen vor ihrer Haustür.
Als Erfolg verbuchen können die Veranstalter des Myfestes, die vornehmlich türkischen und arabischen Kreuzberger Jugendlichen, die in den letzten Jahren stets an der Randale beteiligt waren, eingebunden zu haben. Viele von ihnen trugen T-Shirts, die sie als Ordner zu erkennen gaben, die übrigen amüsierten sich vor allem vor den zahlreichen Bühnen, allen auf dem Hiphop-Jam in der Naunynstraße.
Möglich gewesen wäre diese Entwicklung nicht ohne den Wechsel der polizeilichen Strategie. Fast über die gesamten Neunzigerjahre hinweg hatte die Polizei durch ihre Einsatzstrategie oder durch Überreaktionen maßgeblich zur Eskalation beigetragen. Noch im Jahr 2001 ließ der damalige CDU-Innensenator Eckart Werthebach die Mai-Demo verbieten – und erntete schwere Straßenschlachten. Sein Nachfolger Körting versuchte es hingegen mit Deeskalation. Immer weniger waren es bepanzerte Robocops, die das Straßenbild dominierten. Stattdessen zogen sogenannte Antikonfliktteams durch Kreuzberg. Nur wenn die Situation tatsächlich zu eskalieren drohte, griffen sich Polizeitrupps Einzelne heraus. Die Strafen fielen umso saftiger aus.
Den großen Wandel läuteten die Demonstranten aber selbst ein: Versuchten Kreuzberger Autonome viele Jahre lang, der Randale einen wie auch immer gearteten revolutionären Zweck zuzusprechen, haben sich in den vergangenen Jahren offenkundig immer weniger Leute aus der linken Szene daran beteiligt. Jonas Lehnert von der Antifaschistischen Linken, die federführend an der Organisation der abendlichen „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration“ beteiligt ist, begründet die geringere Massenmilitanz offiziell damit, dass ja auch die Polizei nicht mehr stundenlang auf Feiernde und Demonstranten einknüppelt. Aber auch bei Berlins größter Antifagruppe war in den vergangenen Jahren zu beobachten, wie sie der Gewaltrituale überdrüssig wurden und es ihr kaum mehr gelang, ihre politischen Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen.
Um einen neuen Politikstil in der linken Szene bemühen sich die Aktivisten der sogenannten Mayday-Parade. Mit ihren bunt geschmückten Wagen versuchen sie nicht nur, eine weniger martialische Alternative zu den traditionellen Umzügen zu etablieren. Ihnen geht es darum, die Veränderungen in der flexibilisierten und prekären Arbeitswelt aufzugreifen und damit neue Zielgruppen anzusprechen. Die Parade war die dritte in Kreuzberg, aber sicher nicht die letzte.
Peter Grottian sieht in den Forderungen, die auf der Mayday-Parade vorgetragen wurden, durchaus ein Zeichen einer Repolitisierung des 1. Mai in Berlin. Aus seiner Sicht muss sich die außerparlamentarische Bewegung jedoch auch fragen, was sie noch tun kann. „Die Krawalle dürfen nicht durch eine Latschdemo mit netten Parolen ersetzt werden“, findet Grottian.
Hannes hätte nichts gegen eine Repolitisierung. Doch er ist davon überzeugt, dass es dafür notwendig wäre, aus Kreuzberg herauszugehen. Denn spätestens mit dem „Myfest“ sei kein politischer Inhalt mehr erkennbar.
Und noch etwas könnte dazu beigetragen haben, dass diesmal die Randale nach der Demo weitgehend ausblieb: Um zu verhindern, dass leere Bierflaschen als Wurfgeschosse benutzt werden, rief die Bezirksverwaltung dazu auf, die Flaschen an eigens dafür hergerichteten Stellen abzugeben. Einen Euro für zehn Flaschen zahlte der Bezirk; 24.000 Flaschen wurden dem Kreuzberger Bürgermeister Franz Schulz zufolge eingesammelt. So trägt auch Hartz IV zum Frieden in Kreuzberg bei.
*Namen geändert.