: „Zugehört haben die wenigsten“
16.000 Besucher, freie Umarmungen für die Bremer, ein Workshop zum Thema Abtreibung, diverse Gegendemonstrationen und KritikerInnen, die meist vergeblich das Gespräch mit den Besuchern gesucht haben: Versuch einer Bilanz des umstrittenen Bremer Christivals
VON EIKEN BRUHN und TERESA HAVLICEK
„Ihr ward wunderbar“, ruft der Einsatzleiter der Straßenbahn ins Megaphon. Die Menge auf dem Gleis johlt. Dutzende Teenager schultern Rucksäcke, stemmen Rollkoffer in die Bahn – und ab. Tschüss Bremen, tschüss Christival. Hinter ihnen zerlegen Helfer die Konzert-Bühne, auf der von Mittwoch bis Sonntag Menschen zum Mitbeten und Mitsingen aufgefordert haben. Oder erzählt haben, wie Jesus „ihr Leben total verändert hat“.
16.000 überwiegend jugendliche Besucher und Besucherinnen zählten die Organisatoren des evangelikalen Spektakels. Bis gestern dominierten sie die Bremer Innenstadt. Boten „free hugs“, freie Umarmungen an, segneten sich lautstark oder hockten auf dem Marktplatz, vor sich ein Hut mit Münzen und das Schild „Ich bin reich, bitte bedienen Sie sich“.
Nicht alle Bremer waren so freundlich wie der Straßenbahn-Mann zu den „Christivalern“, wie sie sich selbst nennen. Viele waren irritiert, einige ließen ihrer Wut über das in der evangelikalen Bewegung vorherrschende Menschenbild freien Lauf. Sie demonstrierten, störten Veranstaltungen und riefen den jungen Menschen entgegen: „Geht mit Gott, aber geht.“ Während die Teenager in ihren Gemeinden lernen, dass Homosexualität nicht gottgewollt sei, zum Glück aber „veränderbar“, hörten sie hier, dass das man das auch anders sehen könne.
„Zugehört haben leider die wenigsten“, sagt Kassandra Ruhm, eine der Sprecherinnen des Bündnisses „Freiheit für Vielfalt“. Statt zu stören, stellte sich Ruhm an drei Tagen mit anderen Schwulen und Lesben auf den Domshof, verteilte Informationsmaterial und ließ sich beschimpfen. „Ich will euer Zeug nicht, Homosexualität ist eine Krankheit“, musste sie sich nicht nur einmal anhören. Andere, wie drei Teenager-Mädchen, die sich am Samstag in die Nähe einer Kundgebung am Domshof getraut haben, bleiben freundlich, erklären, sie hätten nichts gegen Homosexuelle – „aber ich muss das ja nicht gut finden, das ist nun einmal meine Meinung“. Bei ihnen steht eine 49-jährige Frau, die einwendet, das sei respektlos gegenüber Schwulen und Lesben. Wahrscheinlich seien diese Diskussionen sinnlos, sagt sie hinterher noch, aber es mache ihr Sorgen, wenn bereits Jugendliche so dächten. „Aber eigentlich war das gerade noch harmlos, gestern habe ich schon ganz anderes gehört.“ Ihr Heimweg führte an der Bürgerweide, dem Festivalgelände, entlang, dort kam sie ins Gespräch mit einem älteren Mann, der um sich eine Gruppe Teenager scharte. Ob nicht in der Bibel auch stehen würde, Sklavenhaltung sei in Ordnung, fragte sie ihn und hoffte, ihn auf diese Weise zum Nachdenken zu bewegen. Das Gegenteil war der Fall. „Sie haben recht. Gott hat gewollt, dass diese Menschen unten sind. Dort sollen sie bleiben, um dann in den Himmel zu kommen“, gibt sie den Wortlaut wieder. „Wahnsinn.“
Ähnlich fassungslos sind auch einige, die am Samstag das Seminar „Sex ist Gottes Idee – Abtreibung auch?“ des Vereins „Die Birke“ besucht haben. Dessen zweiter Vorsitzender heißt Markus Arnold, ein schmaler, etwas milchgesichtig wirkender Mann im Anzug, der per Power-Point-Vortrag zeigt, wie sein Verein das Leben einer Schwangeren komplett durchleuchtet. „Laura“ zum Beispiel: Eine „perfekte Frau, schlank und fit, mit sehr vielen Gaben, sie kann tapezieren, Maurerarbeiten erledigen bis hin zum Fünf-Gänge-Menü“, beruflich stark eingespannt ist sie und mit vielen familiären Sorgen belastet. Ungewollt war die 23-Jährige von ihrem Ex-Mann schwanger geworden, nach der „Schwangerschaftskonfliktberatung“ durch die Birke-Leute gab sie ihren Plan vom Abbruch auf. „Hinter all ihrer Verletzung hatte sie tiefe Sehnsucht, für jemanden zu sorgen“, weiß Arnold. Sein Verein sorgte dafür, dass sie ihrer Bestimmung ungestört nachgehen konnte, besorgte Therapieplätze für den alkoholabhängigen Bruder und die depressive Mutter. Und „was würde die Mutter eher aus der Depression holen, Kind oder Abtreibung?“, fragt Arnold ins Publikum.
Etwa 70 Christivaler zwischen 17 und 20 Jahren hören ihm zu, wie er einen Schwangerschaftsabbruch als „Akt, der gegen das Frau-Sein spricht“, bezeichnet und von den Symptomen des „Post-Abortion-Syndroms“ erzählt: Depressionen, Suizidgefahr, Rückenleiden, Frigidität. Eigentlich sollte eine Moderatorin sicherstellen, dass sachlich über das Thema gesprochen wird. Dazu hatten sich die Organisatoren des Christivals durchgerungen, nachdem selbst die Leitung der Bremischen Evangelischen Kirche – die das Christival unterstützt – angemerkt hatte, ihr sei die Darstellung zu einseitig. Doch die Moderatorin nimmt nach einem kurzen Grußwort in der ersten Reihe Platz und lässt den Referenten freie Bahn. Sie greift nicht ein, als Arnold und sein Kollege Kristijan Aufiero Fragen von jungen Männern nach Abtreibungen bei Vergewaltigungen ausweichen und schließlich verbieten. Sie bekommt auch nicht mit, dass ein Mädchen weinend den Raum verlässt. Mehrfach hatte die junge Frau nachgehakt, wie man sich verhalten solle, wenn die Gesundheit einer Frau durch eine Schwangerschaft gefährdet sei. Aufiero wich erst aus und kanzelte sie dann ab. „Ihre Frage ist konstruiert und hypothetisch.“
Nicht alle Christivaler, nicht alle Evangelikalen, die ihre persönliche Beziehung zu Jesus in den Vordergrund ihres Glaubens stellen und mit historisch-kritischer Bibelauslegung wenig am Hut haben, denken wie die Birke-Leute oder der Bremer Pastor, der gern in seiner Gemeinde Homoheilung anbieten würde. Zwei von ihnen schauen am Stand auf dem Domshof vorbei, wo Kassandra Ruhm und ihre Mitstreiter stehen. Jörg ist 31, Jesus Freak und schwul. Die „Fundis“ in seiner WG lehnen Homosexualität ab, ihn aber nicht. Er verzichte auf Sex, erklärt er den meisten. Nur wenige wissen, dass das nicht ganz stimmt. Und sollte er mit einem Mann händchenhaltend in die Gemeinde spazieren, müsse er sich wohl auf eine „Schlammschlacht“ gefasst machen, sagt er traurig und kampfeslustig zugleich. Ellens Gemeinde weiß, dass Kathrin ihre Freundin ist. Solange sie nicht im Bibelkreis knutschen, sei es okay, sagt die 25-Jährige. Und: „Es sind ja nicht nur Christen, die Probleme damit haben.“