: Entzauberung der Langsamkeit
Das Verhältnis der EU-Kommission zu alten Saaten ist von Arroganz und Verzögerung geprägt
VON ANTJE KÖLLING UND HANNES LORENZEN
Was haben Großmütter und Fußballspieler gemeinsam? Sie verstehen nichts von Genetik. Genauso wenig wie Europas Bauern. Denn sie sind weder Wissenschaftler noch Züchter. „You can as well ask your grandmother or your football club to take care of European biodiversity“, platzte dem Kommissionsbeamten damals der Kragen. Es erschien ihm völlig absurd, Bauern, Gärtner und Saatgut-Amateure mit der Bewahrung der landwirtschaftlichen Vielfalt zu betrauen, sie gar mit EU-Mitteln beim Anbau lokaler Landsorten oder beim Saatguttausch zu fördern. Das war vor 15 Jahren, im Dezember 1993. Seitdem versuchen wir nun die über Jahrhunderte gewachsene Vielfalt der europäischen Nutzpflanzen und -tiere irgendwie zu befreien, aus einem Dickicht von staatlich verordneten Beschränkungen und exklusiven Ansprüchen von Züchtern, Wissenschaftlern und der Saatgutindustrie. Man braucht ruhig Blut, einen langen Atem und viele Kampfgefährten draußen vor Ort. Dann erträgt man die unerträgliche Langsamkeit der politischen Veränderung.
Das Europäische Parlament hatte auf Initiative der Grünen schon 1989 auf den rapiden Verlust der (Sorten-)Vielfalt auch bei Kulturpflanzen in Europa hingewiesen und im EU-Haushalt für 1994 zwanzig Millionen Euro für ein neues Programm zur Erhaltung der biologischen Vielfalt in der Landwirtschaft bereitgestellt. Die EU-Kommission war damit in der Pflicht, eine entsprechende Rechtsgrundlage für die nötigen Fördermaßnahmen zu schaffen.
Als dem Kommissionsbeamten der Kragen platzte, verhandelten wir also im Auftrag des Parlaments über ein konkretes Arbeitsprogramm zur Erhaltung der biologischen Vielfalt in Europas Landwirtschaft. Die Bürokratie ist mächtig. Die Generaldirektion Landwirtschaft der EU-Kommission hielt die Parlamentsinitiative für Unsinn. Ein Verlust der biologischen Vielfalt sei höchstens bei Wildarten und vermutlich vor allem in Entwicklungsländern zu befürchten. In den gemeinsamen Gesetzen zum Saatgutverkehr innerhalb der EU sei dagegen alles geregelt. Die wachsende Zahl angemeldeter Sorten im gemeinsamen Sortenkatalog der EU sei ein Beweis für zunehmende, nicht etwa abnehmende genetische Vielfalt in der europäischen Landwirtschaft.
Wir waren da anderer Meinung. Griechenland beispielsweise hatte zu der Zeit bereits 80 Prozent seiner Landsorten bei Weizen verloren, in anderen Ländern sah es nicht viel besser aus. Wir blieben deshalb dabei: Die Kommission soll die Initiative ergreifen für eine nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt in der Landwirtschaft. Über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg soll die enge Zusammenarbeit von Bauern, Züchtern, Wissenschaftlern und Amateuren vor Ort dafür sorgen, dass die Vielfalt unserer europäischen Ernährungskultur nicht verloren geht.
Fehlgeleitete Förderung
Rio kam uns zur Hilfe. Die UN-Konvention zur Biologischen Vielfalt, die 1992 in Rio de Janeiro stattfand, enthielt zum Glück auch Verpflichtungen zur Erhaltung der Nutzpflanzen und Tiere. Diese Verpflichtungen hatte auch die Kommission im Namen der EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet. 1994 schließlich legte die Kommission ein 5-Jahres-Programm vor, das vielversprechend klang, weil es die ursprünglichen Forderungen des Parlaments tatsächlich aufnahm.
Aber wir hatten unsere Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die EU-Kommission muss beschlossene Programme abwickeln. So kam es, dass die Erhaltung der biologischen Vielfalt der europäischen Landwirtschaft in der Abteilung Agrarforschung landete und damit bei besagtem Beamten (Großmütter und Fußballclub).
In den folgenden fünf Jahren profitierten vor allem Forschung und Wissenschaft von dem Programm. Bauern, Nichtregierungsorganisationen und Amateure waren durch die Auswahlkriterien ausgeschlossen.
Kritik von Expertenseite
Nach fünf Jahren war nach Meinung der Kommission der Auftrag erfüllt. Bei den Vorplanungen zum Haushalt 2000 gab der Generaldirektor für Landwirtschaft der Maßnahme „negative Priorität“. Zur Begründung hieß es, er habe kein Personal und im Übrigen sei am Ende nur die Hälfte des bereitgestellten Geldes ausgegeben worden. Es bestehe also nicht wirklich Bedarf.
Eine unabhängige Expertengruppe zur Bewertung des Programms war anderer Meinung. Sie kam zu dem Schluss, dass die Anforderungen der Rio-Konvention durch die Maßnahmen nur sehr beschränkt erfüllt worden waren; dass die bürokratischen Hürden bei der Antragstellung viel zu hoch wären und die 21 geförderten Projekte sich zu wenig auf Erhaltung und Nutzung vor Ort, stattdessen auf Beschreibung von Wirtschaftlichkeit für Züchtungsinteressen konzentriert hätten; dass Maßnahmen zur Einbeziehung von Bauern und Nichtregierungsorganisationen nur marginal erfolgt und wegen mangelnder Bereitstellung von Personal nur die Hälfte des Haushalts genutzt wurde. Ein neues 5-Jahres-Programm sei deshalb erforderlich; mehr Personal, mehr Erhaltung und Nutzung vor Ort in regionalen ökologischen Zusammenhängen; weniger Bürokratie, mehr Zusammenarbeit mit NGOs, mehr Koordination auf europäischer Ebene.
Wenigstens wurde deutlich, dass die Kommission ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Tatsächlich wurde ein neues Programm aufgelegt. Zuständig war nun die Abteilung für Agrarumweltprogramme, genetische Ressourcen und Biotechnologie. Das war innere Logik, denn die Kommission stand bei den internationalen Verhandlungen über die Anerkennung von Züchterrechten und Patenten auf gentechnisch veränderte Pflanzen unter Druck. Sie wollte deshalb auch die Saatgutgesetze verändern, indem die Züchterrechte erweitert werden sollten. Die Saatgutindustrie argumentierte, dass der Züchtungsaufwand durch Biotechnologie erheblich teurer sei und deshalb auch die Rechte der Züchter ausgeweitet werden müssten.
Auch hier war das Europäische Parlament anderer Meinung. Bei den vom Vorsitzenden des Ausschusses für Landwirtschaft, Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf, geführten Verhandlungen gelang es uns, sowohl gesonderte Kriterien für ökologisches Saatgut als auch gesonderte Zertifizierungsbedingungen für lokale Landsorten auszuhandeln. Das Saatgutverkehrsgesetz und die Verordnung zum Europäischen Sortenkatalog besagen nämlich, dass nur Pflanzensorten anerkannt und in Verkehr gebracht, also verkauft werden dürfen, die eine umfangreiche Prüfung bestanden haben. Anerkannte Sorten müssen homogen, stabil, nachweislich neu sein und einen behördlich bestimmten landeskulturellen Wert besitzen. Weil Züchter Kosten sparen möchten – die Prüfungen kosten je nach Mitgliedstaat bis zu 11.000 Euro im Schnitt pro Sorte –, läuft das in der Praxis auf eine Einengung der genetischen Linien, also weniger genetische Vielfalt hinaus. Was in den 60er-Jahren angeblich Bauern vor schlechter Saatgutqualität schützen sollte, bescherte den Züchtern gegenüber den Bauern immer exklusiver werdende Rechte bis hin zu Patenten – und trug gleichzeitig zu einem rasanten Verlust zahlloser lokaler Sorten bei.
Die Abnahme der Vielfalt ist den ganz Großen auf dem Saatgutmarkt wohl ganz recht, denn sie fürchten Verluste von Marktanteilen durch jede weitere Sorte auf dem Markt.
Unsichtbarer Einfluss
Die Saatgutindustrie nimmt ihre Lobbyarbeit sehr ernst, und der Erfolg einiger Unternehmen gibt ihr Recht. Neben der biologischen Vielfalt nimmt auch die Unternehmensvielfalt ab: Heute teilen vier Saatgutfirmen 90 Prozent des weltweiten Marktes an Maissaatgut unter sich auf, die meisten Saatguterzeuger sind multinationale Unternehmen. Saatgut ist „Big Business“, auch in der EU. Aus der EU stammen 60 Prozent der weltweiten Saatgutexporte, der Wert der Saatgutexporte aus der EU beläuft sich auf 2,7 Milliarden Euro im Jahr.
Es könnte mit an dieser Lobby liegen, dass – trotz aller ehrgeizigen Abkommen und Selbstverpflichtungen zu biologischer Vielfalt und der Erhaltung der genetischen Ressourcen – die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission erst jetzt nach zähem Ringen zu einem mittelmäßigen Kompromiss kommen, mit dem der 1998 beschlossene gesetzliche Rahmen geschaffen wird, der es erlauben soll, auch Saatgut kommerziell weniger interessanter Amateursorten, traditioneller und regionaler Sorten ohne aufwendige Prüfungen zu vermarkten. Dass die Vielfalt nur durch konstante Nutzung erhalten und weiterentwickelt werden kann, ist keine neue Erkenntnis, doch da die Saatgutmultis daran kein Geld verdienen, investieren sie lieber in Projekte wie die jüngst eröffnete größte Saatgutbank der Welt im Eis Spitzbergens.
Nicht die letzte Runde
Die EU-Kommission bereitet seit dem letzten Jahr eine neue Saatgutgesetzgebung vor. Als Ziele werden Bürokratieabbau und eine teilweise Privatisierung der Saatgut-Anerkennungsverfahren genannt. Der erste Schritt, die Evaluierung der bestehenden Regelungen, wird derzeit von einem Konsortium durchgeführt, in dem einige Personen mitarbeiten, die enge Beziehungen zur Saatgutindustrie haben.
Die Saatgut-Multis haben ihre Agenda für diese Reform der Saatgutgesetze, wir haben unsere. Wir müssen durchsetzen, dass Vielfalt eine Chance bekommt und die Nutzung der genetischen Ressourcen demokratisiert wird. Vielleicht bringen wir zu den nächsten Verhandlungen Großmütter und Fußballspieler mit. Denn weise Großmütter wissen, wie bedeutsam es ist, die Schätze der Welt für zukünftige Generationen zu erhalten. Und beim Fußball gewinnen meistens die mit dem längeren Atem.
Der „Tresor des Jüngsten Gerichts“, die größte Saatgutbank der Welt wurde im Februar 2008 in Spitzbergen eröffnet. Die Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung gab 37,5 Millionen Dollar, die norwegische Regierung sowie einige andere Staaten und natürlich die Saatgutindustrie (Syngenta, DuPont/Pioneer) haben finanziell zum Projekt beigetragen. Rund 800 Kilometer vom Nordpol entfernt liegt die „Saatgutarche“ im Permafrostboden von Svalbard, einer zu Spitzbergen gehörenden Insel. Bei minus 18 Grad Celsius soll hier das Saatgut aus 175 Ländern für die nächsten tausend Jahre frisch gehalten werden und vor Umweltkatastrophen für die Nachwelt geschützt sein. Im ewigen Eis die Samen von Nutzpflanzen aus aller Welt einzulagern, kann sicher nicht schaden – dies darf jedoch nicht suggerieren, die Einlagerung würde die Artenvielfalt und die Ernährungssicherung für die Zukunft gewährleisten. In die In-situ-Erhaltung, also die Erhaltung der Arten- und Sortenvielfalt durch Nutzung, werden bisher viel zu wenig Mittel gesteckt. Sie wird sogar gesetzlich erschwert. Eine lebensfähige Vielfalt kann nur in-situ erhalten werden, denn die Umweltbedingungen ändern sich und die Sorten müssen sich durch stetige Wiederaussaat an diesen Wandel anpassen können. Wenn jedoch Saatgut nach langen Jahren aus dem Eisschlaf in Spitzbergen erweckt wird, hat es den Klimawandel verschlafen und kann unter den neuen Umweltbedingungen – wenn es überhaupt noch keimfähig ist – nicht zu leistungsfähigen Nutzpflanzen heranwachsen. Eine große Gefahr liegt auch darin, dass Saatgutkonzerne versuchen, sich mit dem Betreiben von Saatgutbanken ausschließliche Nutzungsrechte an Genressourcen zu sichern – die Vielfalt der landwirtschaftlichen Sorten ist ein Produkt jahrhundertelanger bäuerlicher Züchtung und muss frei für die Ernährung der Menschheit zur Verfügung stehen.