: Der Supermarkt Savanne
Das traditionelle Wissen vom Nutzen der Natur im Kampf mit Jeans und Radios und Fahrrädern
VON JULIA KROHMER UND ROBERT SIEGLSTETTER
Wohl nirgendwo auf der Welt fand der Übergang vom Sammeln zum Ackerbau so spät statt wie im subsaharischen Afrika. Jedenfalls deutet darauf der derzeitige Stand archäologischer Forschung hin, die das früheste Vorkommen domestizierter Pflanzen in den verschiedenen Regionen der Welt dokumentiert. Dies ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Afrika die längste Besiedlungsgeschichte aller Kontinente aufweist.
Viele Wissenschaftler sind der Ansicht, dass der Anbau von Kulturpflanzen dem Sammeln von Wildpflanzen überlegen sei und deshalb diese Wirtschaftsform schnell verdränge, sobald er erst einmal erfunden ist. In Afrika sei diese Entwicklung aufgrund verschiedener Ungunstfaktoren aber erst sehr spät eingetreten. Aber warum sollten die Menschen dort überhaupt mit der mühsamen Landwirtschaft anfangen, wenn dazu keine zwingende Notwendigkeit bestand? Denn die Savanne, die 80 Prozent des subsaharischen Afrikas bedeckt und deren nutzbarer Reichtum an Wildpflanzen- und Tierressourcen leicht für den Menschen zugänglich ist, lieferte ihnen anscheinend lange Zeit alles, was sie zum Leben brauchten: Wildgräser mit essbaren Samen, Knollenfrüchte und die essbaren Früchte der Bäume und Sträucher. Hinzu kommen Eier, Kleinnager und große Wildtierherden.
Über Jahrmillionen gab es für die Menschen offensichtlich keinen Grund, den Sammelkorb mit der Hacke zu vertauschen. Erst als das Klima um 2000 v. Chr. trockener wurde, begann man mit dem Pflanzenanbau.
Kostenloser Reichtum
Die Savanne liefert nicht nur Essbares. Für alle Bedürfnisse des täglichen Lebens hält sie auch heute noch kostenlos einen großen Reichtum an nachwachsenden Pflanzenarten bereit. Dies zeigt auch der „Einkaufszettel“ einer Fulbefrau in Burkina Faso (Westafrika), die wir auf ihrem Gang durch die Savanne begleitet haben: – 1 kg Pagguri (Panicum laetum): Wildgrassamen, aus denen ein wohlschmeckendes Getreidegericht bereitet wird – 1 großes Bündel Rannyere (Andropogon gayanus): hohes, mehrjähriges Gras, aus dessen Halmen die Matten für den Bau von Hütten geflochten werden. 1 Zweig von Comihi (Feretia apodanthera): aufgrund ihrer regelmäßigen, rechtwinkligen Verästelung werden aus Zweigen dieses Busches Milchquirle gemacht – 1 Hand voll Tanni-Früchte (Balanites aegyptiaca): schmecken süß, werden deshalb gerne genascht – und außerdem gegen verschiedene Krankheiten verwendet – Früchte von verschiedenen Grewia-Arten: süß und vitaminhaltig – 1 Arm voll Piliostigma-Zweige: mit ihrem stärkenden Absud werden neu geborene Kinder gewaschen – trockenes Holz: Brennholz fürs Kochen – 1 Büschel Schoenefeldia-Gras: aus seinen Halmen werden Schmuckarmreifen geflochten – 1 Schale voll Schoten von Gawdi (Acacia nilotica): sie werden zum Färben von Grasschmuck oder Kleidern verwendet – ein paar wilde kleine Kürbisse (Cucumis sp.): sie werden mit Schale in der Glut gebacken und als Gemüse verzehrt – 1 Bündel Polle Paabi (Hibiscus asper): zähfaserige Stengel, aus denen Schnüre gedreht werden – eine dicke Hand voll Saraaho-Halme (Eragrostis tremula): daraus wird ein feiner Besen gebunden – ein paar Hand voll Bulbakka (Corchorus olitorius): zur Anreicherung von Saucen.
So gut wie alle Gehölzarten und zahlreiche Kräuter werden auf verschiedenste Weise medizinisch verwendet – und sind für viele Menschen auch die einzige zur Verfügung stehende Medizin, denn moderne Medizin kostet Geld, und der nächste Arzt ist oft sehr weit weg. Deshalb sind es die traditionellen Heiler, die die medizinische Grundversorgung großer Bevölkerungsteile sicherstellen, vor allem auf dem Land.
Wirksame pflanzliche Mittel
Pharmakologische Untersuchungen zeigten: In über 60 Prozent aller Fälle, in denen eine Pflanze traditionell gegen eine bestimmte Krankheit verwendet wird, ist tatsächlich eine nachweisbare, chemisch begründbare Heilwirkung festzustellen. Und: „Ungefähr drei Viertel der biologisch aktiven, aus Pflanzen abgeleiteten Bestandteile, die weltweit in der Medizin Verwendung finden, wurden durch Untersuchungen in Volks- und Ethnomedizin entdeckt.“ (Walter Lewis und Memory Elvin-Lewis (1994): „Ethnobotany and the Search for New Drugs“) Dies zeigt: Nicht nur die afrikanische Bevölkerung, sondern auch wir hängen von dieser Vielfalt ab.
Deshalb wird traditionelles Wissen inzwischen ernst genommen. Pharmakonzerne nutzen traditionelle Pflanzenkenntnisse zunehmend für die Medizinproduktion – und sparen sich so die kostenintensive Entwicklung eigener Wirkstoffe. Dies reicht bis hin zur Patentierung von Anwendungen, die traditionelle Gemeinschaften schon seit Jahrhunderten kennen. Um zu verhindern, dass traditionelles Wissen über die Köpfe seiner Urheber hinweg von den Konzernen der Industrienationen genutzt wird, wurden in den letzten Jahren internationale Abkommen auf den Weg gebracht, die sicherstellen sollen, dass biologische Vielfalt, genetische Ressourcen und traditionelle Kenntnisse als (geistiges) Eigentum der betreffenden Länder und Völker anerkannt werden – und dass eine Nutzung durch Dritte nicht ohne ihr Einverständnis und eine angemessene Beteiligung an den damit erzielten Gewinnen erfolgen soll. Das sogenannte ABS (access and benefit sharing) ist auf der internationalen Biodiversitätskonferenz in Bonn sogar eines der wichtigsten Themen. Ob derlei Regelungen in der Praxis tatsächlich die Selbstbedienung zu Schnäppchenpreisen im Supermarkt der Natur eindämmen können, bleibt abzuwarten.
Zu den eingangs geschilderten „paradiesischen“ Verhältnissen der afrikanischen Savanne, die ihren Bewohnern alles Lebensnotwendige bereitstellt, steht das heute in den Medien transportierte Bild Afrikas in krassem Gegensatz. Dürrekatastrophen, Desertifikation, Übernutzung von Ressourcen, Überbevölkerung und Hunger sind einige der im Zusammenhang mit Afrika am häufigsten verwendeten Schlagwörter. Muss der Supermarkt Natur seine Pforten wegen Ausverkauf bald schließen und wird somit die oft unterschätzte „grüne Sozialversicherung“ der westafrikanischen Landbevölkerung zusammenbrechen?
Zwischen Ausverkauf…
Diese Frage bedarf einer differenzierten Betrachtung. Denn zum einen gibt es auch in der westafrikanischen Savanne starke regionale Unterschiede. Die im Norden liegenden sahelischen Gebiete sind z. B. von Klimaschwankungen stärker betroffen als die südlicheren. Zum anderen findet überall in Afrika ein Kultur- und Wertewandel statt, der mit erheblichen Veränderungen der herkömmlichen Traditionen und Lebensgewohnheiten der Menschen einhergeht. So gehören Kleidung im europäischen Stil, Wellblechdächer für die Lehmhäuser, Radios, Petroleumlampen und Fahrräder inzwischen zur Grundausstattung jedes ländlichen Haushalts. Um diese Dinge anzuschaffen, ist Geld nötig. So wurden neue Anbauprodukte eingeführt, sogenannte Cash-Crops, wie Mais und in jüngerer Zeit auch Baumwolle und Gemüse. Der Ertrag dieser Produkte dient kaum dem Eigenverbrauch, sondern ist fast ausschließlich zum Verkauf bestimmt. Die Anbauflächen wurden ausgedehnt, die Brachezeiten verkürzt, sodass die Savannenvegetation nun weniger Zeit zur Regeneration hat. Zudem sind Mais und Baumwolle anspruchsvolle Pflanzen, welche die Böden schneller auslaugen als einheimische Getreidesorten, und oft wird auch stark gedüngt und gespritzt. Der Gemüseanbau findet wegen des hohen Wasserbedarfs meist in der Nähe von Bächen statt und ist so Hauptursache für den Rückgang der besonders artenreichen Galeriewälder. Eine wichtige Einkommensquelle für Frauen ist der Verkauf von Brennholz und Holzkohle, die nach wie vor die wichtigsten Energielieferanten zum Kochen sind – der hohe Holzverbrauch schädigt jedoch die Natur. Solche Beispiele ließen sich noch viele aufzählen.
…und Nachhaltigkeit
Es gibt jedoch auch ermutigende Entwicklungen. In der traditionellen Medizin drohen viele Anwendungen in Vergessenheit zu geraten, unter anderem, weil viele verwendete Pflanzenarten sehr selten geworden sind. Zur Bewahrung ihrer natürlichen Ressourcen und damit ihrer traditionellen Kenntnisse stellten in mehreren Dörfern Nordbenins die Bewohner Teile ihres Landes als botanische Gärten unter Schutz. Auch werden Baumschulen gegründet, um Jungpflanzen für Aufforstungen bereitzustellen, und zwar nicht nur von eingeführten Arten wie Mango und Cashew, mit denen sich gutes Geld verdienen lässt, sondern auch von bedrohten lokalen Arten. Zunehmend werden Baumwollfelder durch Cashewplantagen ersetzt, die den Boden mit Nährstoffen anreichern, statt ihn auszulaugen. Außerdem stellen die Bäume eine zusätzliche Holzressource dar. Und schließlich hat sich auch die Philosophie der Entwicklungszusammenarbeit geändert: Früher wurden Projekte oft ohne Beteiligung der Bevölkerung geplant – und brachen nach Projektende und Abzug der jeweiligen Organisation schnell wieder zusammen. Inzwischen wird dagegen zunehmend der tatsächliche Bedarf mit der Bevölkerung ermittelt und diese dauerhaft einbezogen, was die Nachhaltigkeit deutlich erhöht. So können effiziente, von den Betroffenen auch dauerhaft mitgetragene Strategien zur nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen entwickelt werden.
Diese Beispiele zeigen, dass trotz der Anstrengungen, deren es auf diesem Gebiet noch bedarf, Anlass zur Hoffnung besteht, dass der Supermarkt Savanne nicht demnächst Konkurs anmelden muss.