: Ein pulsierendes Ding
Superplatte: „3“, das neue Album des Berliner Jazztrios Hyperactive Kid, changiert zwischen Free Jazz, E-Musik und Pop. Die Musiker verschmelzen ihre Songs zu einem gewaltigen Soundgemälde
VON TIM CASPAR BOEHME
Wenn man sie im Konzert sieht, scheint die Herkunft ihres Namens klar. Christian Lillinger, der vierundzwanzig Jahre alte Schlagzeuger von Hyperactive Kid, spielt so, wie das Trio heißt. Hinter seinem Instrument scheint er gar nicht wirklich sitzen zu wollen, ständig ist er in Bewegung. In aberwitzigem Tempo und manchmal mit weit aufgerissenem Mund trommelt er auf alle Bestandteile seines Sets ein, bis sie ihm nicht mehr reichen und er nach etwas in der Nähe greift – Handpercussions, Aschenbecher, alles recht.
Christian Lillingers Mitstreiter, der Saxofonist Philipp Gropper und der Gitarrist Ronny Graupe, wirken im Vergleich dazu auf der Bühne fast stoisch. Auch im Gespräch bleibt es bei dieser Rollenverteilung. Philipp und Ronny sind ruhig und gelassen, Christian ist nur unwesentlich weniger quirlig als an seinem Instrument. Zu ihrem Namen kam die Band, deren aktuelles Album „3“ gerade erschienen ist, eher zufällig. „Es gab einen Auftritt, da wurden wir spontan vom Clubbesitzer ‚Uncle Ron, Mister Hip and the Hyperactive Kid‘ genannt“, erinnert sich Philipp Gropper. Bei einem Festival musste dann schließlich ein Name für das Plakat her. „Da haben wir dann als Arbeitstitel ‚Hyperactive Kid‘ genommen, denn wir drei bilden sozusagen ein pulsierendes Ding“, so Christian Lillinger.
„Wir sind eins, wir versuchen im Sound so zu verschmelzen wie eine Person.“
Tatsächlich klingt die Musik des Trios Hyperactive Kid auf seltsame Weise geschlossen. Oft scheinen sich die drei Musiker in völlig unterschiedliche Richtungen zu katapultieren, sodass man meint, die Struktur ginge koppheister. Doch von einem Augenblick zum nächsten kippt die Stimmung, und sie spielen fast so homogen wie eine Popband. Für eine experimentelle Jazz-Combo sind ihre Stücke sogar äußerst strukturiert, zur Hälfte ist die Musik formstreng wie in der modernen Klassik durchkomponiert. „Es ist eigentlich alles total organisiert“, so Ronny Graupe. „Es ist sehr flexibel, je nachdem, wie lange die Improvisationsstellen sind. Aber die geschriebenen Teile bleiben mehr oder minder gleich.“
Die Stücke komponiert jeder zunächst einzeln für sich, dann erst werden sie gemeinsam erarbeitet, wird das ein oder andere ausprobiert. Manches entsteht auch „naiv“, wie Lillinger es nennt: „Es gibt Dinge, die einfach krank sind, die man eigentlich nicht so macht, weil man es als lächerlich empfindet. Gemeinsam kann man dann in diese Komposition eine Ästhetik reinsetzen. So etwas entsteht durch Zusammenarbeit.“ Diesen Prozess beschreibt Philipp Gropper als durchaus zielgerichtet: „Wir versuchen, so an den Stücken zu arbeiten, dass jedes Stück für sich eine eigene Welt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten ist.“
Die Musik ist zum einen völlig heterogen, „eine Schizophrenie mit mehreren Stilistiken drin“, so Lillinger, andererseits kompakter Pop, fast wie ein Song, „wo man eine richtige Melodie erkennt“. Ein schönes Beispiel ist Groppers Stück „Rocker Tilo“ vom neuen Album. Nach einem rasend schnellen abstrakten Saxofonsolo in der Mitte steigert sich das Stück in einen schlingernden Groove, der sich immer wieder selbst in den Weg zu geraten scheint. Auf dem Höhepunkt singen plötzlich Lillinger und Graupe als Chor zur Saxofonstimme – mit ziemlich schrägen Tönen, wie man in der kurzen A-cappella-Einlage hört.
Der Wille zum Experiment ergibt sich nicht zuletzt aus der ungewöhnlichen Besetzung, denn eigentlich fehlt das Fundament: „In den traditionelleren Besetzungen gibt es immer einen Bass, der trägt harmonisch total viel. Diese Säule ist jetzt weg, und die Last verteilt sich auf jeden von uns. Deswegen müssen alle stärker an einem Strang ziehen“, beschreibt Graupe die Konstellation. Geplant war das Wagnis nicht. Die Besetzung ergab sich bei einer Session, zu der sie mit einem Bassisten verabredet waren, der einfach nicht auftauchte. Angefangen haben sie dann ganz traditionell, mit Standards. Die studierten Jazzmusiker hatten zuvor alle im Bundesjazzorchester bei Peter Herbolzheimer gespielt, Gropper und Graupe lernten sich dort kennen.
Zum Jazz kommt man als vergleichsweise junger Musiker heute auf ganz unterschiedliche Weise. Bei Gropper und Graupe waren es die Eltern, die Jazz hörten, Lillinger gestattete sich die pubertäre Revolte gegen den rockorientierten Vater mit Free Jazz. Die Erfahrung, dass es nicht cool war, Jazz zu hören, machten alle drei. Furchtbar viel hat sich daran nicht geändert. Jazz aus Deutschland, zumal experimenteller, wird weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit praktiziert. In Ost wie West gibt es zwar eine Reihe prominenter Free-Jazz-Pioniere wie Peter Brötzmann oder den Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer, bei dem Lillinger studierte, aber Musiker der jüngeren Generation machen in Deutschland erst seit einigen Jahren wieder verstärkt auf sich aufmerksam. Zum Teil habe das mit der verbesserten Ausbildung zu tun, vermutet Graupe. Vor zwanzig, dreißig Jahren gab es in weitaus weniger Städten die Möglichkeit, Jazz zu studieren. Dass es eine lebendige Jazzszene in Deutschland gibt, haben inzwischen auch die Musiker aus anderen Ländern gemerkt: „Wir merken, dass viele Musiker von überall her nach Berlin ziehen, egal ob aus Italien, Skandinavien, England oder Frankreich“, so Phillip Gropper.
Bleibt zu hoffen, dass der experimentelle Jazz sein Experten-Vollbart-Image mehr und mehr ablegt, denn die Hörer, denen die Musik von Hyperactive Kid gefällt, sind nicht selten eher jazzfern, wie Gropper feststellt: „Wenn Publikum kommt, das eigentlich kein Jazzpublikum ist, haben die oft genug einen Zugang dazu. Eigentlich geht es häufig nur darum, die Leute überhaupt zu einem Konzert zu bringen.“ Das Gleiche kann man ihrem wunderbaren neuen Album wünschen, laut dem legendären Jazz-Pianisten Joachim Kühn „eine Superplatte“. Eben.
Hyperactive Kid, „3“ (jazzwerkstatt) Infos unter www.hyperactivekid.de