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Archiv-Artikel

Nur Antreiber Favre bleibt unter Strom

Beim 1:0-Sieg gegen Nürnberg feiern die Herthafans einen unbeschwerten Saisonausklang. Allein Trainer Lucien Favre gestikuliert beim letzten Heimspiel – wie so oft – wild und unzufrieden an der Seitenlinie

HERTHA BSC

Hertha BSC – 1. FC Nürnberg 1:0 (0:0)

Ehrentreffer: Raffael (74.)

So war’s: „Wir haben mit viel Geduld gespielt und Gott sei Dank ein Tor gemacht. Manchmal muss man mit einem 1:0 leben.“ Hertha-Coach Lucien Favre

Lucien Favre saß lediglich einen Meter von dem Mann entfernt, auf den sich alle Aufmerksamkeit richtete. Sein Nürnberger Trainerkollege Thomas von Heesen wurde nach der 0:1-Niederlage in Berlin auf der Pressekonferenz ins Kreuzverhör genommen. Denn nur wegen fremder Schützenhilfe mussten sich die Franken nicht bereits am Samstag aus der ersten Liga verabschieden. Doch Favre interessierte sich für diese Unruhe um seinen Nebenmann nicht im geringsten. Völlig in sich gekehrt fuhr er mit einem Kugelschreiber in der Hand über das vor ihm liegende Papier. Mit den akkuraten Handbewegungen eines technischen Zeichners schien er auf dem statistischen Auswertungsbogen des Spiels irgendwelche Werte miteinander in Beziehung zu setzen. Der für seinen Perfektionismus bekannte Schweizer durchforstete gewissenhaft die Zahlen einer Partie, bei der es für Hertha um nichts mehr ging.

Die meisten hätten sich anstelle von Favre nach dem letzten Heimauftritt wohl einfach nur zurückgelehnt und den erreichten Erfolg genossen. Viele Experten sahen Hertha ja vor der Spielzeit perspektivisch dort, wo nun Nürnberg steht: Auf der Kippe zur zweiten Liga. Favre selbst hatte vergangenen Sommer, als er seine Arbeit in Berlin aufnahm, gewarnt, dass sich die völlig im Umbruch befindliche Mannschaft um den Klassenerhalt sorgen müsse. Bekanntlich kam es anders. Zu keiner Zeit hatte sich das Team ernsthaft mit der Abstiegsfrage zu beschäftigen. Nimmt man die bescheidenen Erwartungen zum Maßstab, dann hat Hertha in dieser Saison durch Mittelmaß geglänzt.

Mit viel mehr konnte man vermutlich nicht rechnen. So feierten beim letzten Heimspiel zufriedene Fans ihre hüpfende Mannschaft. Und Manager Dieter Hoeneß stellte ebenso zufrieden fest: „Die Tendenz geht in die richtige Richtung.“ Nur Lucien Favre äußerte sich nicht zur allgemeinen Lage nach seinem ersten Hertha-Jahr. Er analysierte lediglich die letzten, sportlich bedeutungslosen 90 Minuten: „Das war ein sehr schwieriges Spiel.“

Favre hat schon des Öfteren betont, dass er seine Arbeit langfristig anlegt. Zäsuren oder unwichtige Begegnungen scheint es dabei für ihn nicht zu geben. Gegen die Nürnberger erlebte man ihn am Spielfeldrand so emotional wie schon die ganze Spielzeit. Immer wieder sprang der sportliche 50-Jährige von seinem Platz auf, spurtete an die äußerste Begrenzung seiner Coachingzone, um erregt die Mannschaft auf dem Platz zu dirigieren. An dieser Stelle pflegt der meist in weißes Hemd und dunkles Jackett gekleidete Favre seine Fasson zu verlieren. Um das Team nach vorne zu treiben, rudert er wild mit den Armen von rechts nach links oder umgekehrt. Und per Fingerzeichen und komplexen Handbewegungen animiert er einzelne Akteure dazu, doch endlich ihre einstudierte Position einzunehmen.

Die optimale Raumaufteilung und das schnelle Umschalten von der Defensive auf die Offensive ist ihm wichtig. Geradezu pedantisch lässt er Woche für Woche taktische Details trainieren. Und weil im Berliner Spiel häufig wenig davon zu bemerken ist, wird er an der Kreidelinie wütend und verzweifelt. Nach dem Abpfiff kontrolliert Favre hingegen seine Emotionen wie kaum ein anderer. Die kurzzeitige Tabellenführung der Hertha nach sechs Spieltagen kommentierte er mit den Worten: „Das ist besser als umgekehrt.“

Es wird allerorten viel gerätselt über seine wahren Gemütszustände. Weil er wenig preisgibt, schießen die Gerüchte zuweilen ins Kraut. Vor einer Woche spekulierten etwa Schweizer Zeitungen, er hätte genug von Hertha. Die Entwicklung des Teams empfände er als zu schleppend. Im jüngsten Stadionheft bekannte Favre: „Zehn Minuten gut, dann wieder zehn Minuten schlecht. Das geht so natürlich nicht.“

Ein vorzeitiger Abgang würde jedoch nicht zu seiner Vorstellung vom konzeptionellen Arbeiten passen. Wenn Unzufriedenheit aufkommt, predigt Favre stets, wie wichtig Geduld ist. Macht sich jedoch Zufriedenheit breit, wie zuletzt bei Hertha, dann fällt er eher durch Ungeduld auf. Der Trainer will sein ehrgeiziges Projekt, das Team an die Bundesligaspitze zu führen, in der richtigen Balance und Spannung halten.

In der kommenden Saison wird ihm das schwerer fallen. Der Erwartungsdruck von außen steigt. Der Umbruch des Teams – 16 Ab- und Zugänge – ist vollzogen. Alle werden die Feinheiten auf dem Platz sehen wollen, die Favre in dieser Saison so oft vergeblich vom Rande aus eingefordert hat. JOHANNES KOPP