: Blütenrausch und Alkoholexzess
Besäufnisse, Schlägereien, Nazis – so lautet ein gängiges Vorurteil über Brandenburg. Aber stimmt das? Ein mehrtägiger Besuch des 129. Baumblütenfests in Werder soll es klären
Das 130. Baumblütenfest in Werder/Havel findet vom 25. April bis 3. Mai 2009 statt. Nach Angaben der Veranstalter kommen 500.000 Menschen, um die Spezialität der Region – den Obstwein – zu probieren. Die Stadt liegt etwa 35 Kilometer südwestlich von Berlin. Beim 129. Fest im April/Mai 2008 wurden 29 Straftaten registriert und 20 Tatverdächtige ermittelt. www.baumbluete.de
VON DANIÉL KRETSCHMAR
Erster Tag – Der erste Eindruck
Es ist voll. Rund 100.000 Menschen wälzen sich durch den kleinen Ort Werder, nicht wenige davon offensichtlich angetrunken – und das schon vor 14 Uhr. Alle streben zur Havelinsel, dem nur über eine schmale Brücke erreichbaren malerischen Ortskern. Hier leben etwa 800 Menschen, für die kommenden zehn Tage aber wird er das Zentrum des Geschehens sein. Ein älterer Herr mit Schiebermütze begrüßt jovial lallend die Teilnehmer der festlichen Parade lokaler Vereine. Beim vorletzten von 73 Wagen stockt er kurz. Sechs Verlorene tragen ein Banner, auf dem KURAGE steht, das „Werderaner Bündnis für Kulturaustausch, gegen Rassismus und Gewalt“. Schließlich ringt sich der Schiebermützenträger ein „Schön, dass ihr da seid. Das ist ja auch wichtig“, ab.
Der Aufmarsch ist beendet, nun betreten der Bürgermeister Werner Große (CDU, mit einem Wahlergebnis von rund 70 %) und die Baumblütenkönigin, eine 18-jährige Abiturientin, die Bühne. Es wird ein wenig über die Nestbeschmutzer im Ort gelästert, immerhin hat die auf Beschwerden von Anwohnern fußende negative Berichterstattung über das Baumblütenfest in den vergangenen Wochen zwei Großsponsoren zum Rückzug bewegt. Auf einem Weinfest werde nun mal Alkohol ausgeschenkt, hatte Große schon im Vorfeld mitteilen lassen. Hier bekräftigt er noch einmal, dass es ja nun nicht so sei, dass man in Werder alle paar Meter was auf die Rübe bekäme oder jemand einem in die Taschen pinkeln würde. Quod erat demonstrandum. Zeit, sich ein wenig umzuschauen.
Die schiere Menschenmasse ist einschüchternd. Der Lärm und nicht zuletzt die große Zahl von Gruppen junger Männer, die angetrunken, mit roten Gesichtern, einer mutmaßlich nicht so roten Gesinnung und aggressivem Habitus das Festgelände dominieren, macht mir etwas Sorgen. Irritierend ist das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen: Sieht man mir an, dass ich nicht von hier bin? Macht mich das Teleobjektiv verdächtig? Ich packe es weg und versuche auf brandenburgische Art in die Landschaft zu schauen. Das angepasste Erscheinungsbild wird mit einer 1-Liter-Plastik-Flasche Pflaumwein – Glas ist auf dem gesamten Gelände verboten – abgerundet.
Auf den Bühnen spielen Coverbands, die Grillroste sind rotglühend, der Obstwein fließt. Vor den Zelten der Malteser herrscht rege Geschäftigkeit, die Zahl der Schnapsleichen steigt, die Dämmerung hat eingesetzt. Wir begegnen einer besonders fröhlichen Gruppe. Sie skandieren: „Hisst die rote Fahne / hisst die rote Fahne / hisst die rote Fahne mit dem Ha-ken-kreuz!“. Auf den T-Shirts wird der alliierten „Verbrechen“ im Zweiten Weltkrieg gedacht, die Überlegenheit der weißen Rasse gepriesen oder auch die Zugehörigkeit zu diversen Kameradschaften kundgetan. Kritische Blicke auf uns, ich hänge mich tiefer bei meiner Begleitung ein. Jetzt heißt es, glaubhaft den Besoffenen spielen und auf diese Weise irgendwie unschuldige Dazugehörigkeit simulieren. Das ist nicht so schwer, die Flasche in meiner Hand ist fast leer.
Mit einbrechender Dunkelheit scheinen die Familien und braven Bürger komplett verschwunden zu sein. Der Trunkenheitsgrad der Umstehenden hat neue Höhen erreicht. Am Abgang der Brücke langweilt sich die Security, Türsteher aus Berlin, massive Gestalten ganz in Schwarz mit Schutzwesten. Wozu die gut seien, fragen wir. „Ach, die Leute kommen hier mit allem auf uns zu, abgebrochene Flaschen, Messer, Bierbänke, da ist das zum Selbstschutz schon nötig.“ Der weitere Rückweg ist gesäumt von torkelnden Menschen. Hier und da Erbrochenes, einige Festbesucher können sich nur noch mit Hilfe ihrer Freunde fortbewegen. Vorbei an kleineren Polizeigruppen, ebenfalls in Riotgear, wenn auch noch ohne Helm und Schild.
Zweiter Tag – Spot the Nazi
Die Beobachtungen des ersten Tages helfen ungemein bei der gezielteren Auswahl eines möglichst unauffälligen Outfits. Auf dem Weg zur Bismarckhöhe, einem Hügel etwas außerhalb, von dem aus man einen Blick auf die Insel hat, begegnet uns eine Gruppe Hooligans, die gut gelaunt auf den Schabernack eines Straßenclowns reagieren, jedoch die Richtung wechseln, als sie die erste Polizeistreife sehen. Eine Flasche Johannisbeerwein gekauft, und schon sind wir von den gewöhnlichen Festbesuchern nicht mehr zu unterscheiden. Am Ausflugslokal auf der Anhöhe musiziert eine Kapelle armselig vor sich her, nur wenige tanzen. Überhaupt ist es ziemlich leer, ein Eindruck, der sich später auf dem gesamten Festgelände bestätigt. Die Anwesenden sind gewöhnliche Ausflügler.
Wo zur Hölle sind die Nazis? Auf der Insel vielleicht? Dort aber sind erheblich weniger Menschen als am vorherigen Tag, und sie sind deutlich jünger. Feuchtfröhlich, im Ganzen aber gelassen und keineswegs aggressiv besetzt. Eine große Gruppe Schüler hat auf der Havelinsel ihren Spaß zur Musik einer Blues-Brothers-Coverband. Heute war die Matheabiturprüfung. Nach langer Suche entdecken wir eine kleine Gruppe, sich durch ihre Kleidung offenbarende Rechtsradikale, die schweigsam über den Rummel ziehen und dabei durchaus kritisch von den heutigen Herren der Insel beobachtet werden. Es ist nicht ihr Tag, und ich frage mich, warum ich hier bin. Den Fotoapparat permanent im Anschlag, warte ich auf Besoffene, Schlägertypen, Nazis und Polizei – die hässliche Fratze Brandenburgs. Und die will und will sich nicht zeigen. Es ist ein schöner Tag. Enttäuscht reisen wir ab.
Dritter Tag – Teilnehmende Beobachtung
Wo, fragen wir uns heute, kommt eigentlich der auf dem Festgelände feilgebotene Obstwein her? Wir folgen dem Obstpanoramaweg in Richtung Plötzin und Glindow. Der Abstecher lohnt sich: ein endloses weißes Blütenmeer liegt vor uns. Die Höfe der Obstbauern am Wegesrand sind mit Bierbänken und improvisierten Ausschänken bestückt.
Die Gastgeber sind freundlich, die Gäste friedlich, der Kuchen ist selbstgebacken und der Obstwein schmeckt im Liegestuhl unter blühenden Zweigen gleich dreimal so gut. So ungefähr muss das gedacht gewesen sein mit diesem Baumblütenfest, damals, vor 129 Jahren, als findige Obstbauern das erste Happening dieser Art veranstalteten, um die Berliner schon im Frühjahr aufs Land zu locken. Die wesentliche Zutat zu einer gelungenen Kirmes hatten sie ja zur Hand: Alkohol – in rauen Mengen. Sonderzüge nach Werder, ein paar Karussells hingestellt, und schon läuft der Laden.
Seit 1990 ist aus dem vergleichsweise beschaulichen Fest ein Riesenereignis geworden, das zwar einen geschätzten Umsatz von 25 Millionen Euro macht, insbesondere für die Havelinsel und deren Bewohner jedoch zu einer spürbaren Belastung geworden ist. In den Gewässern um den Ortskern schwimmen während des Festes Abfälle, die Anwohner berichten von erheblichen Schäden an der Bausubstanz durch Vandalismus. Nur über das ungenierte Auftreten Rechtsradikaler scheint sich niemand öffentlich beklagen zu wollen. Ja, wo sind die verdammten Deppen auch? Hier unter den Apfelblüten gibt es jedenfalls keine Nazis.
Ich beginne, mein eigenes Vorurteil anzuzweifeln. War die Begegnung am ersten Tag nur eine Ausnahme? Hat sie überhaupt so stattgefunden? Auffällig ist weniger die Anwesenheit der Rechtsradikalen, sondern die Abwesenheit der anderen – vor allem solcher, die deutlich als Ausländer erkennbar sind. Beim Oktoberfest in München sieht das doch etwas anders aus. Woher kommt dieser, in der Sache hermetische, Charakter ostdeutscher Großereignisse? Der Headliner des Bühnenprogramms ist die Ostband „City“, die auch nur ihr ganz spezielles Publikum anspricht, was mir jedoch nach der ausführlichen Weinverkostung herzlich egal ist. Als sie auf vielfaches Verlangen den Hit „Am Fenster“ spielen, meint jemand neben mir, dass das doch die heimliche Nationalhymne gewesen sei – welchen Landes, braucht er nicht zu sagen, wir sind hier unter uns.
Und dann tanzen wir, Angst habe ich keine mehr, denn ich weiß, hier gehöre ich Ostdeutscher dazu, und ich sehe auch so aus – weinselig und sentimental. Die Anderen, die für die negativen Schlagzeilen sorgen, sind nicht da, und sie werden auch nicht kom- men. Und sollte sich doch einmal einer hierher verirren, wird ihm schon jemand den Ausgang zeigen, da bin ich ganz zuversichtlich.