: So kommen Sie durch Bohmte
Die niedersächsische Gemeinde hat ihre Verkehrsschilder abgebaut. Heute werden die Straßen freigegeben. Das in Deutschland bislang einzigartige Projekt „shared space“ setzt an die Stelle blinder Regelgläubigkeit der Verkehrsteilnehmer deren Kooperation und Achtsamkeit
Durch die niedersächsische Gemeinde Bohmte sind bis vor kurzem täglich 12.500 Kraftfahrzeuge gedonnert, geleitet von Verkehrsschildern- und Installationen aller Art, das heißt, hauptsächlich von Verbotsschildern: Du sollst hier nicht parken, Du sollst dort nicht überholen, Du sollst hier langsamer werden. Auch für die Einwohner von Bohmte, deren Zahl knapp die der Kraftfahrzeuge übersteigt, galten die Gebote. Ein Zebrastreifen etwa schrieb vor: Du sollst nur hier und nicht anderswo über die Straße gehen. Alle 28 Meter trifft man im Schnitt in Deutschland auf einen Verkehrsregelhinweis. Und so war es auch in Bohmte.
Bis das Städtchen in einem in Deutschland einzigartigem Pilotprojekt Schilder und Ampeln abgebaut, Mittel- und Seitenstreifen übermalt und selbst die Kantsteine geschliffen hat. Kraftfahrzeuge, Fahrradfahrer und Fußgänger treffen in einem ebenen Straßenraum aufeinander – der am Montag zum Verkehr freigegeben wird.
Eine Straße für alle, schön und gut. Aber hat man auch wirklich das Diktum von Hobbes bedacht, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist? Wird es nicht zum Krieg aller gegen alle kommen? Werden wir schon bald in der Zeitung lesen müssen, dass ein Schaufelbagger auf dem Weg durch Bohmte drei Fahrradfahrer aufgeladen hat? Oder dass ein Bus in eine Bankfiliale raste, als er versuchte, zwei Kindern auf der Straße auszuweichen? Damit diese und andere Schreckensszenarien im Reich der Phantastik bleiben; damit Bohmte den Boom einer verantwortungsvollen Verkehrspolitik begründet, ist es entscheidend, sich die weiterhin geltenden Verkehrsregeln zu vergegenwärtigen. Oder anders gesagt: Wie kommt man durch Bohmte?
1. Halten Sie sich auf der rechten Straßenseite.
Auf der linken Straßenseite ist mit Gegenverkehr zu rechnen. Wenn Sie sich immer rechts halten, kommen Sie am sichersten voran. Für Autofahrer gilt diese Regel allerdings nur eingeschränkt: Wer zu weit rechts fährt, läuft Gefahr auf Fahrradfahrer zu treffen und diese dann in die Fußgänger hineinzudrängeln, die wiederum rechts der Fahrradfahrer zu vermuten sind. Autofahrer und Fahrradfahrer sollten also stets nach links und rechts schauen. Nur die Fußgänger, die Rechtsaußen des Straßenverkehrs, könnten sich eigentlich darauf beschränken, nach links zu sehen. Das wäre allerdings ihrem Konsumverhalten abträglich – schließlich locken rechts die wohl gefüllten Schaufenster. Darum wird das in Bohmte bloß theoretisch in Betracht gezogen.
2. Sehen Sie sich die andern Verkehrsteilnehmer genau an.
Sie müssen nicht nur stets nach links und rechts schauen, sondern den anderen Verkehrsteilnehmern direkt ins Gesicht. Beim Abbiegen gilt rechts vor links. Aber es ist besser, Sie sehen nach, ob der andere auch Sie gesehen hat. Wenn er Sie anschaut, winken Sie ihm freundlich zu, um ihm zu bedeuten, dass Sie ihn gleich links liegen lassen werden. Wenn er aber so dreinblickt, als hätte ihn gerade seine Freundin links liegen lassen, sollten Sie tunlichst Abstand nehmen von ihrem Recht auf Vorfahrt.
3. Bleiben Sie locker und denken Sie mit!
Wenn ein Fahrradfahrer Sie ausbremst, dann hat er dazu vielleicht einen triftigen Grund. Wer weiß, vielleicht rast er ins Krankenhaus, hastet an ein Sterbebett. Dulden Sie Ausnahmen, dann können Sie sich auch besseren Gewissens selbst mal welche genehmigen.
Eine Ausnahme dieser Art könnten auch fußlahme Fußgänger sein. Wenn sich ein Herr fünf Minuten Zeit nimmt, um eine Straße zu überqueren, dann denken Sie nicht an den Termin, den Sie verpassen, sondern an seine Arthrose. Halten Sie an, steigen aus und reichen Sie dem Herrn auf den letzten Metern noch den Arm, statt zu versuchen, ihm mit der Hupe Beine zu machen.
4. Rechnen Sie mit dem Schlimmsten.
Nicht alle Menschen sind so verständig und umsichtig wie Sie. Es kann in Bohmte immer passieren, dass einem Verkehrsteilnehmer links und rechts herzlich gleich sind, und Ihnen dann in großer Geschwindigkeit ein Auto auf der von Ihnen verwendeten Straßenseite entgegenrast. Es kann auch passieren, dass eine Mutter mit einem Kinderwagen unterwegs ist, der immer nach links zieht. Das Kind schreit, sie versucht, es beim Schieben zu trösten, und findet sich nach fünf Schritten mitten auf der Fahrbahn wieder – kein Kantstein, der ihr von ihrem Abweg Kunde gäbe. Das geht so schnell, man glaubt es kaum – und darum müssen Sie unter allen Umständen langsam fahren. Wenn Sie ganz sicher gehen wollen, niemanden zu überfahren oder selbst überfahren zu werden, bilden Sie am Ortseingang mit anderen Autofahrern einen Konvoi und achten darauf, dass Sie nicht gerade vorneweg fahren.
Als Fußgänger empfiehlt es sich, flink zu sein. Zwar ist damit zu rechnen, dass der Auto- und Fahrradverkehr in Bohmte mit der neuen Verunsicherungsdoktrin im großen und ganzen gemächlicher und damit auch sicherer vonstatten gehen wird. Um aber dem Unbill der unvermeidlichen Ausnahmen zu entkommen, wird häufig genug wohl nur ein beherzter Satz zur Seite übrig bleiben.
Seltsame Wege, könnte man denken, die da eine kleine Gemeinde im Osnabrücker Land mit dem Projekt „shared space“ geht. So viele Unwägbarkeiten! Aber sind es so viele? Tatsächlich hat dieses Verkehrsprojekt im Ausland schon aufs Schönste funktioniert, und nicht nur in kleinen Orten wie Bohmte: Das Herzstück von Londons Verkehrssystem, der Picadilly-Circus ist nach den Lehren des „Geteilten Raums“ gestaltet und auch in den Niederlanden, wo das Konzept entwickelt wurde, ist es mit Erfolg angewandt worden. Ganz so gewaltig ist das Risiko also nicht, wenn Bohmte jetzt die Axt an den Schilderwald legt.
Obwohl: Es ist ein deutscher Schilderwald. Und hierzulande liebt man seinen Wald. Stolz und stur wächst er aus dem deutschen Regelwahn. Die Aussicht, dass er dereinst still steht und schweiget, wird manch einem Patrioten den Schlaf rauben und ihn zum Stoßgebet treiben, dass Bohmte auf dem Holzweg sein möge.