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Archiv-Artikel

Fiebern für die Young Boys

Berner sind Lokalpatrioten. Deshalb ist in der Schweizer Hauptstadt der örtliche Fußballverein allemal wichtiger als die Europameisterschaft. Für den Fußballsommer gerüstet ist die Stadt dennoch

BERN-TIPPS

Grundlegendes Glossar: Torhüter = Goalie, Offenes Bier = ä Stange, Fußballspielen = schutte Lokale Fußballhelden: Mannschaft der Berner Young Boys, kurz: YB Stadion: Stade de Suisse, ehemaliges Wankdorfstadion, 32.000 Plätze Public-Viewing-Zone: Während der Euro ’08 fungiert die Berner Innenstadt als Fanzone, vor allem im Bereich Bundes- und Waisenhausplatz direkt vor dem Parlamentsgebäude Großes Eröffnungsfest am 6. Juni Speis und Trank, inkl. Leinwand: Restaurant Aarbergerhof, Aarbergergasse 40, Café Kairo, Dammweg 43 Bierhübeli-Lounge, Neubrückstrasse 43 Halbzeit, Beundenfeldstrasse 13 Im Juli, Militärstrasse 42a Ausgehen: Sous Soul, Junkerngasse 1 ISC Club, Neubrückstrasse 10 Schlafen: Private Anbieter: www.sleep-in.ch Fancamp: www.fancamp08ch Holländerdorf: www.oranjedorp08.ch Extratipp: Auf Höhe Campingplatz Eichholz in den Fluss Aare springen und sich bis in die städtische Badeanstalt Marzili ziehen lassen. Nur für geübte Schwimmer Weitere Infos: www.euro08-bern.chSAZ

VON SAMIRA ZINGARO

Nun sind sie wieder da. Wie immer, wenn etwas kultig wird. Sie strömen in Scharen ins Stade de Suisse, kaufen sich Schals und Shirts, trinken Bier und fachsimplen. Tausendfach. Die Eventritter, die Mitläufer, wenn etwas angesagt ist. Seit die erste Mannschaft des Berner Fußballklubs Young Boys (YB) mit dem Meistertitel liebäugelte, zählt das Stadion 18.000 Zuschauer pro Spiel. „YB macht glücklich“ – auch wenn es mit der Meisterschaft nichts wurde. Seit 22 Jahren warten die Young Boys darauf, als helvetischer Meister zu glänzen. Das Fahnenmeer im Stadion weht tiefgelbschwarz, und jüngst haben über zwei Drittel der Befragten gegenüber der Berner Zeitung geantwortet, der Stadtklub sei ihnen wichtiger als die Euro 2008. Das stimmt: In Bern braucht alles seine Zeit, auch die „Europhorie“. Zwar waren Freude und Stolz unbestritten, als die Stadt zur Hostcity für das Fußballspektakel berufen wurde. Als einziger Austragungsort aber stimmte Bern über die Euro 2008 ab; und nur knapp genehmigte das Stimmvolk einen Kredit für die Durchführung der Spiele.

Glaubt man jedoch den Werbern und Organisatoren, können die Bernerinnen und Berner die Europameisterschaft kaum erwarten. „Can’t wait for Uefa Euro ’08“ empfängt ein Plakat in den Farben der Schweizerfahne die Zugreisenden bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof. Über den Gleisen, in der Bahnhofshalle, in den Gassen und unter Berns weltberühmten Sandsteinarkaden wehen Fahnen mit dem Euro-08-Logo. Auf Plakaten jubeln Fußballfans. Die Schaufenster füllen sich mit Fanartikeln. Nicht nur Kioske, Kaufhäuser, Kneipen verkaufen Paninibilder. Selbst der Bäcker bietet Fußballer feil – fünf Bilder ein Franken. Für die Schweiz, das weltweit tüchtigste Land im Paninibildersammeln, hat das Unternehmen gar eine eigene Auflage lanciert, mit noch mehr Klebebildern. Die Berner tauschen die Paninis, als sei die Stadt ein großer Schulhof. Durch die Straßen kurvt das Motto „Bern wirkt Wunder“, in großen Lettern klebt es auf der knallroten Straßenbahn.

Die „Europhorie“ wird in Bern von außen gefüttert. Doch sind die Bernerinnen und Berner überhaupt Euro-hungrig? Sicher – die Mehrheit der Bevölkerung fährt im Juni nicht in den Urlaub. Doch für die Berner kommt die eigene Stadt vor Europa – auch wenn die Young Boys gerade gegen den FC Basel verloren haben, das Bayern München der Schweiz. Nun bleibt Muße für das drittgrößte Sportfest der Welt, und nun gibt es auch Platz für die Holländer, die in Bern die Gruppenspiele bestreiten.

Eine andere, große Liebe könnte den Fußballstars Konkurrenz machen: die Aare. Wer in die Schweizer Hauptstadt reist, wird als erstes von ihr empfangen. In ewiger Treue umarmt der Fluss die mittelalterliche Altstadt. Aus den nahen Alpen schlängelt er sich durchs Mittelland und ist wohl der weltweit sauberste Fluss, der durch eine Landeshauptstadt fließt. Schimmert er petrolgrün und ist über 20 Grad warm, frönen die Berner ihrem liebsten Hobby, dem Aareschwimmen. Hunderte Menschen spazieren an heißen Sommertagen am Ufer entlang, springen rein, johlen unter den Brücken – auf dass ihr Echo erklingt. Und als seien sie gleich hinter dem Berner Münster aufgeklebt, entlockt das berühmte Bergtrio Eiger, Mönch und Jungfrau den vielen Touristen ein „Ah“ und „Oh“. Bern – gemütlich-putzige Hauptstadt mit einem der beliebtesten Dialekte der Schweiz. Das sagen die einen. Die anderen ziehen die Samthandschuhe aus: „Bern ist die nebensächlichste Hauptstadt der Welt“ oder „Bern ist keine Stadt, sondern ein Zustand“, schrieben exilbernerische Journalisten und sorgten für erboste Leserbriefseiten in den Lokalblättern.

In den letzten Monaten musste sich Bern sogar europaweit behaupten. Nach den Ausschreitungen im Vorfeld der nationalen Wahlen letzten Herbst polterten die Zeitungen, ärgerten sich Bürgerliche: Chaoten würden in Bern leben, die Stadt sei dreckig, die rot-grüne Regierung habe ihre Schäfchen nicht im Griff. Der Ausdruck „Bern-Bashing“ hallte durch das Land.

Aber jetzt will die Stadt ihr schönstes Sommerkleidchen aus dem verstaubten Schrank nehmen und der Welt zeigen: Bern bewegt sich doch. Der Touristenmagnet „Bärengraben“ wird bis zum nächsten Jahr durch einen artgerechten Park ersetzt. Bern befreit damit nach 150 Jahren endlich seine Stadttiere aus dem runden tiefen, öden Loch. Und im Westen der Stadt entsteht ein neuer Stadtteil, inklusive Freizeit- und Einkaufstempel des Stararchitekten Daniel Libeskind.

Eine Uhr in der Innenstadt zählt rückwärts bis zum Startschuss am 7. Juni

Auch für die Euro 2008 ist Bern ein bisschen gerüstet. Eine Uhr in der Innenstadt zählt rückwärts bis zum Startschuss am 7. Juni. Vor dem Bahnhof malochen die Bauarbeiter. Bis zu den Spielen soll der komplett sanierte Bahnhofsplatz neue Visitenkarte werden: Gegenwärtig werden die letzten Glasscheiben auf einen imposanten und ach so modernen Baldachin geschraubt. Für Juni sucht man vergebens ein freies Zimmer in den Hotels der Innenstadt. Auch der Campingplatz an der Aare ist längst ausgebucht. Nun engagieren sich Private und die Peripherie. Berner vermieten ihre Zimmer. In rustikal-ländlicher Gegend einige Kilometer außerhalb von Bern werden zwei Fancamps errichtet.

Einzig vor dem Stade de Suisse in Berns Norden steht die Zeit still. Das Stadion ersetzte 2005 das altehrwürdige Wankdorf-Stadion, hinter dessen Tribünen sich „das Wunder von Bern“ ereignete. Das Stadion wurde vor sieben Jahren gesprengt, lediglich der Name und die Uhr überlebten: Das riesige Zifferblatt zeigt exakt die Minutenzeit, in der sich Deutschland 1954 mit dem 3:2 gegen Ungarn zum Weltmeistertitel schoss.

Fünf Jahrzehnte später trieft unter der Uhr das Fett einer YB-Wurst auf den Boden. Eine Gruppe Jugendlicher in Gelbschwarz stößt auf den Feierabend und das kommende YB-Spiel an. Um sie herum tausende glückliche Bernerinnen und Berner. Dank des Erfolgs der Young Boys ist die Schweizer Hauptstadt in den letzten Monaten zur Fußballstadt erwacht – nun auch für die Euro 2008.