Essbarer Unernst

Zum Genuss gehört die Entschiedenheit, zu wählen. Diese kulturelle Technik ist verloren gegangen. Betrachtung über Essbrei

VON TILL EHRLICH

Die Speisen schmecken immer süßer. Zugleich werden klassische Konsistenzen und Texturen aufgeweicht. Was früher kross und bissfest war, kommt weich und schlabberig daher. Der Babygeschmack ist auf dem Siegeszug – unaufhaltsam. Urbane Trendsetter haben sich längst an die Spitze der Bewegung gesetzt. Sie laufen Starbucks und McDonald’s den Rang ab. In den Hotspots der Metropolen ernährt man sich längst von Sandwichs mit salzig-süßen Aufstrichen oder von Suppen, die selten ohne Kokosmilch zubereitet werden (Kokosmilch ist die Sahne des frühen 21. Jahrhunderts, süß, fett und unvermeidlich). Der ganze Kram ist selbstverständlich „to go“ verfügbar. Ob Suppe, Saft oder Latte macchiato, ob in der S-Bahn, der Tram oder im Auto, überall nuckeln und saugen erwachsene Menschen wie Kleinkinder an Pappbechern herum.

Ein gutes Beispiel für die Verweichlichung des Essens ist Carrot Cake, die amerikanische Interpretation der eidgenössischen Rüblitorte: Während das Schweizer Original mit dem raffinierten Zusammenspiel von subtiler Nussigkeit und originellem Möhrenaroma berühmt wurde, schmeckt Carrot Cake vor allem süß und fett. Eher ein Rüblizombi als ein Kuchen, der zu allem Überfluss noch mit „Frosting“ umhüllt wird – einem Gemisch aus Butter, Philadelphia-Industriekäse und Zucker. Schmeckt nach Kindergeburtstag.

Die ordinärste Variante von infantilem Futter trifft man derzeit im Ikea Bistro an. Alles ist billig, und es gibt auf alles, egal ob Kekse, Donuts und Fischkonserven, Mengenrabatte. Anderen wiederum ist Ikea Food ein Gräuel. Das hängt ganz davon ab, was einem Essen bedeutet. Besonders fies fühlt es sich an, wenn man am Hotdog-Selfservicestand steht, der eigentlich eine Zone ist. Die Ikea-Hotdog-Zone. Hier trifft man vorwiegend auf junge, schlanke Singles unter dreißig.

Den Hotdog verschlingt man, indem man den bepackten Einkaufswagen zum Tisch umfunktioniert. Zuvor muss man sich nach einer Wurst mit Brötchen anstellen. Das kostet einen Euro, und man darf sich selbst bedienen, süßen Senf, „Svensk Senap“, auf die Wurst geben und so viel Smörgåsgurka Felix, Gurkenscheiben, wie man will, draufhäufen. Die Krönung ist Roastad Lök, Röstzwiebelgranulat, das mit künstlichem Speckaroma behandelt wurde. Es erinnert daran, dass Essen mal etwas mit fester Textur zu tun hatte. Doch es ist nur nostalgisches Zitat, mehr nicht. Schmeckt alles gleich und verwandelt sich beim Kauen sofort in süße Pampe.

Dabei geht einem die Lust am Essen völlig ab, was offenbar beabsichtigt und vielleicht ein Grund für die Beliebtheit dieser Art von essbarem Unernst ist. Man könnte auch von einer Verachtung leiblicher Genüsse sprechen, die natürlich im Protestantischen – vorherrschend im Ikea-Futter-Heimatland – schon immer zu Hause war. Zudem waltet der genussfeindliche Ungeist der kantischen Moralethik, wonach der Geschmack bei den niederen Sinnen bleibt und nicht wert ist, zur Welt der Kultur zu gehören. Essen als Kultur ist ein Gegenbild zu einer Denkweise, die Essen als niedere Bedürfnisbefriedigung abwertet.

Dass infantile Ernährung gerade trendy ist, basiert offensichtlich auf einer sublimen Abwertung des Essens. Auf den ersten Blick erscheint dies die logische Konsequenz einer verengten Sichtweise zu sein, die jede Speise als potenziellen Dickmacher wahrnimmt. Schlank, fit und gesund zu sein sind heute übermächtige Ideale und Bedürfnisse, die keiner ignorieren kann, der sich nicht sozial und beruflich isolieren will. Wer im Essen allein das Fettmachende sieht, dem leuchten die Zügelung des Appetits und die Abwertung „gefährlicher“ Dickmacher ein. Paradoxerweise beinhaltet die infantile Ernährung ausschließlich Fettmacher. Ein Stück Carrot Cake oder ein Wrap mit Mayonnaise hat mehr Kalorien als ein Teller Pasta.

Warum aber die Dickmacher? Fasten, Sichzügeln und Selbstkontrolle machen wenig Spaß, der Kick besteht darin, das selbst auferlegte Verbot kurzzeitig zu überschreiten. Man tut es heimlich vor sich selbst. Einmal ist keinmal. Dabei beruhigt man das schlechte Gewissen, indem man sich im Stillen sagt: „Ich habe heute keine Zeit zum Essen, ich muss schnell was naschen.“

Normalerweise bestellt man sich ein Essen und hat dabei eine Vorstellung von dem, was man sich wünscht. Man unterhält sich beim Bestellen, fragt nach. Ist die Suppe salzig oder süß? Ist das Curry brennend scharf, dass einem die Luft wegbleibt, oder gleicht die Schärfe nur einem Hauch? Und der Service fragt zurück: „Soll das Fleisch blutig, medium oder durchgebraten sein? Kurz, es geht um äußerst wichtige Dinge, die man vor dem Essen im Idealfall detailliert bespricht, um Enttäuschungen zu vermeiden, die das eigene Wohlbefinden nachhaltig beeinträchtigen könnten.

Jeder Erwachsene kennt seine Esswünsche und -gelüste einigermaßen genau. Ein Kind wählt nicht, er ist bekanntlich derjenige, der nichts zu sagen hat, weil er noch nicht mündig ist. Er ist in der passiv-oralen Phase verhaftet, die Kleinkinder unter zwei Jahren durchleben. Man muss sie füttern, weil sie sonst verhungern würden. Beim Babygeschmack geht es nicht um das Wählen zwischen Geschmäckern, Konsistenzen, Texturen und Aggregatzuständen verschiedener Speisen, sondern um das Stillen des Heißhungers. Der lässt sich nicht abstellen, er wird immer mächtiger, je stärker man ihn unterdrückt. Das kann zu einem ohnmächtigen Hungergefühl führen. Wird dem Baby die Nahrung verweigert, ist es sehr verzweifelt, es weint, schreit und strampelt. Nur der Erwachsene weiß, dass es Nährstoffe braucht, doch das Baby will nicht essen, es will gestillt werden. Es bekommt dann schnell hungerstillende Mittel in den Mund gesteckt. In der Milch ist nährstoffmäßig alles drin, was das Baby braucht. Weil das Baby viel Energie benötigt, ist Babynahrung energiegeladen, und die wichtigsten Nährstoffe wie Eiweiß und Fett werden dabei von der Süße überdeckt. Das Baby ist vom Genuss des Speisens noch weit entfernt, weil es noch an der Brust hängt. Zum Essgenuss gehört das Nein, die Entschiedenheit, zu wählen, was man essen will. Das prägt einen, doch wenn man Heißhunger hat, kann man durchaus in diese Phase zurückfallen. Man verlässt dann den erwachsenen Esshorizont und fällt zurück in die infantile Bedürfnisbefriedigung. Letztlich ist das meiste Fastfood darauf aufgebaut.

Dieser infantilen Esssituation fehlt die Geduld, denn zum genussvollen Essen braucht man Zeit. Das Essen wird zur Triebbefriedigung degradiert. Doch genau das ist das Missverständnis. Essen kann erwachsen und mehr als Befriedigung sein. Wer das Essen nicht als eine passive Tätigkeit abwertet, sondern als eine raffinierte Kultur schätzt, muss keine Verbote übertreten. Statt sich den Genuss des kultivierten Speisens zu verbieten, kann man wählen. Heute Spargel und Karotte, morgen Steinpilze oder Forelle.

Der Genuss eröffnet sich nicht im Herunterschlingen einer Kalorienbombe angesichts des Heißhungers. Vielmehr bedeutet wahrer Genuss beim Essen, dass man differenzieren kann. Dafür nimmt man sich Zeit, auch wenn man wenig Zeit hat, weil das Essen es wert ist. Man wählt sorgfältig die Speise aus, zerkleinert sie, atmet ihren Duft ein, freut sich am Farbspiel. In diesem Moment, der seine eigene Dauer hat, entfaltet sich der Genuss.

In Frankreich wurde diese Kunst sublimiert, immer mit der Absicht, den Genuss durch Verfeinerung und Komplexität der Speisen zu steigern. Dabei beschränkte man sich nicht nur auf die Kreation raffinierter Genüsse. Die Kunst des Menüs ist es ja, die Speisen und ihre Folge so zu komponieren, dass man sich immer intensiver seinem Appetit zuwendet, wohl wissend, dass dieser Trieb niemals zu stillen ist. Hierbei wird die Zeit gedehnt, und das Essen wird zum genuinen Ereignis. In diesem glücklichen Moment ist der Koch ein kreativ Schaffender, der aus seinen Zutaten, den Naturprodukten, kulturelle Werke erzeugt, die zwar vergänglich sind, aber durch die Ereignishaftigkeit eines gelungenen Essens Spuren im Gedächtnis hinterlassen können.

TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, serviert einmal im Monat die taz-Sättigungsbeilage