: Ein Klotz wird weich
In ihrem Spielfilm „Finnischer Tango“ erzählt die Hamburger Regisseurin Buket Alakus die Geschichte von einem Charakterschwein mit irritierendem Charme. Der Film wurde in Bremen und auf Norderney gedreht und ist auf dem Filmfest Emden-Norderney zu sehen, das am Donnerstag beginnt
Das Filmfest Emden-Norderney findet zum zehnten Mal zwischen dem 4. und 11. Juni in der Seehafenstadt Emden und auf der Nordseeinsel Norderney statt. Das immer noch von der städtischen Volkshochschule organisierte Festival zeigt über 100 Kurz- und Langfilme auf sieben Leinwänden und hat mit dem Bernhard-Wicki-Preis, dem DGB-Filmpreis und dem NDR-Filmpreis für den Nachwuchs drei Wettbewerbe, um die 20 Spielfilme aus 13 Ländern konkurrieren. 2007 besuchten über 22.000 Zuschauer das Festival. Traditionell ist das Angebot an britischen und irischen Filmen sehr gut – nicht zuletzt durch die geografische Nähe zu den Inseln. In diesem Jahr gibt es außerdem Reihen mit Filmen von Ulrich Mühe und Emma Thomson. Ein thematischer Schwerpunkt ist das Genre Science Fiction mit „TRUST.Wohltat“, einer deutschen Antiutopie im Stil von „Brave New World“. Ferner gibt es den spanischen Zeitreise-Thriller „Cronocrimes“ und die britische Neuinterpretation einer biblischen Geschichte („Exodus“), die den Auszug aus Ägypten an die englische Südküste von heute verlegt. hip
von WILFRIED HIPPEN
Wer würde einem Schwerstinvaliden seinen Behindertenausweis klauen? Wer würde den neuen Rollstuhl eines Spastikers auf dem Hehlermarkt verhökern? Wer würde einer jungen, geistig behinderten Frau ihre Ersparnisse abluchsen und sie einem Callboy zuführen? Sie sehen, wir haben es bei dem Protagonisten des Spielfilms „Finnischer Tango“ mit einem ziemlichen Früchtchen zu tun. Alexander heißt dieser asoziale und gefühllose Klotz von einem Mann – überraschend ist nur, dass er auf seinem Akkordeon so schön traurige Tangos spielen kann.
Für die türkisch-deutsche Regisseurin Buket Alakus schleppt er „eine unsichtbare Behinderung“ mit sich herum, und Christoph Bach spielt ihn dann auch mit einer unterschwelligen Schwermut, die der Figur einen ganz eigenen, irritierenden Charme verleiht. Ihm verzeiht man auch das Unverzeihliche, weil man spürt, dass er sich selbst mit seinen Taten mehr schadet als seinen Opfern, und dass er dringlich einer Heilung bedarf, gegen die er sich aber sträubt. Er steckt so tief im Schlamassel, dass er sich als Epileptiker ausgeben muss, um sich so Arbeit in einem Theaterprojekt für Behinderte und dann Unterschlupf in deren Wohngemeinschaft zu erschwindeln. Doch bei dieser Gruppe findet er sich schnell in einem Crashkurs im Fach Empathie wieder.
Dass Behinderte den vermeintlich „Normalen“ den Spiegel vorhalten, diese sich dann als emotionale Krüppel erweisen und durch die Freundschaft mit den vermeintlich Schwächeren gesunden, ist nicht erst seit „Rain Man“ ein im Kino gern verwendeter Topos. Der bisher erfolgreichste in Bremen produzierte Spielfilm „Verrückt nach Paris“ folgt dem gleichen dramaturgischen Muster, und so verwundert es kaum, dass mit Eike Besuden einer der beiden Regisseure jenes Films bei „Finnischer Tango“ als Produzent mitgearbeitet hat.
In einer Nebenrolle taucht sogar einer der damaligen Hauptdarsteller auf, aber damit ist es dann vorbei mit den Parallelen. Denn während „Verrückt nach Paris“ filmisch eher grob gestrickt war und vor allem durch die intensive Darstellung der behinderten Schauspieler überzeugte, ist „Finnischer Tango“ sowohl vom Drehbuch wie auch von der Regie her ein ausgefuchstes Werk.
Das beginnt (und endet) schon damit, dass das erste und das letzte Bild des Films zwei fast identische maritime Gemälde zeigen, auf denen Wetter und Seegang den emotionalen Anfangs- und Schlussakkord illustrieren. Dann gibt es eine kleine Hommage an den Kultfilm „Harold and Maude“, die hier nicht weiter beschrieben werden soll, um den Zuschauern den Spaß nicht zu verderben. Und nicht zuletzt gibt es in „Finnischer Tango“ eine Montage, bei der zur Filmmusik, die in diesem Fall natürlich ein Tango sein muss, gezeigt wird, wie es allen Filmfiguren im gleichen Moment ergeht.
In Hollywood-Produktionen gehören solche aufwendigen und komplizierten Sequenzen zum Standard, aber im europäischen und erst recht im deutschen Kino sieht man sie so gut wie nie. Die Regisseurin nennt diese Aufnahmen ihre „fliegende Kamera“, und tatsächlich endet sie in einem schwerelos wirkenden Schwenk über die Dächer des nächtlichen Bremer Marktplatzes, der nicht nur die Lokalpatrioten begeistern dürfte.
Aber die Regisseurin führt hier nicht etwa selbstverliebt vor, was sie alles an filmischen Tricks beherrscht, sondern jeder dieser Effekte dient der Geschichte, und in dessen Mittelpunkt müssen bei so einem Projekt die Darsteller stehen. Sehr angenehm an dem Film ist auch, dass hier nicht das Klagelied über die unterdrückte Minderheit gesungen wird, dass es keine Szenen von Diskriminierung gibt und die Behinderten auch nicht als lieb, naiv und pflegeleicht, sondern als komplexe und widersprüchliche Charaktere gezeichnet werden.
Da der letzte Akt von „Finnischer Tango“ auf Norderney gedreht wurde, ist es nur angemessen, wenn die Uraufführung des Films am 5. Juni dort im Rahmen des Filmfest Emden / Norderney stattfindet. Und zwar im altehrwürdigen Kurtheater, welches ganz nebenbei das wohl schönste Kino von Norddeutschland ist.