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Archiv-Artikel

Wie Koch entkam

ROLAND KOCH IN DREI DATEN

27. Januar 2008: Bei der Hessen-Wahl bricht Koch die absolute Mehrheit weg. Er verliert 12 Prozentpunkte, auch mit der FDP reicht es nicht für eine Koalition. SPD, Grüne und die Linke verfügen über eine knappe Mehrheit. Damit ist sein Wahlkampf gescheitert, in dem er mit Hilfe der Bild-Zeitung Jugendkriminalität vor allem von Einwanderern thematisiert hatte.

6. März 2008: Bei der der Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin verabschiedet Koch sich schon von den Kollegen. Andrea Ypsilanti hatte angekündigt, sich als Chefin einer rot-grünen Regierung mit den Stimmen der Linken wählen zu lassen. Während einer Ausstellungseröffnung danach wird ihm ein Zettel gereicht: Ypsilantis knappe Mehrheit bröckelt. Die SPD-Abgeordnete Dagmar Metzger kündigt ihr Nein an.

Anfang Juni 2008: Koch ist immer noch Ministerpräsident. Für neue Gesetze fehlt ihm zwar eine dauerhafte Mehrheit, und gerade will Rot-Rot-Grün im Landtag die Studiengebühren abschaffen. Dennoch spielt er mit der Option eines Bündnisses mit FDP und Grünen. Beim Hessentag ab Freitag in Homberg wird er den Landesvater machen: Punkte sammeln für einen neuen Wahlkampf. LÖW

AUS WIESBADEN GEORG LÖWISCH

Roland Koch betritt den Raum. Das Empfangszimmer in der Wiesbadener Staatskanzlei wirkt herrschaftlich mit den Marmorsäulen und dem Kronleuchter. Kochs Regierungssprecher Dirk Metz ist dabei, außerdem eine hoch gewachsene, junge Frau. Sie ist Tennisprofi, heißt Andrea Petkovic, geboren in Tuzla, serbische Familie, deutscher Pass. Die Einser-Abiturientin nutzt eine Verletzungspause für ein Praktikum, um zu sehen, wie Politik funktioniert. RTL wird am nächsten Tag einen Bericht darüber bringen: Die Heldin aus der Einwandererfamilie lernt den erfahrenen Regierungschef kennen.

War da was?

Im Winter hat Koch in einem Wahlkampf auf die Ängste vor Migranten gesetzt. Die Wähler bestraften ihn. Zwölf Prozentpunkte minus, nicht mal ein halbes Jahr ist das her. Nun sitzt er hier, neben sich eine schöne Tennisspielerin, und trinkt ein Fläschchen Cola light. Im Deutschlandfunk äußert er sich zu den Themen des Tages, Steuern, Präsidentenwahl, er ist ja einer von Angela Merkels Stellvertretern in der CDU. Ab Freitag lässt er sich auf dem Hessentag feiern. Die Trachtengruppen und Feuerwehrzüge dürfte es nicht interessieren, dass es nur ein geschäftsführender Ministerpräsident ist, den sie beklatschen.

Irgendwie ist dieser Mann entkommen, der im Januar noch so gefangen schien in seiner Niederlage. Vorläufig jedenfalls. Wenn er es schafft, aus Neuwahlen als Sieger hervorzugehen, dann wird Roland Koch vielleicht bald wieder den Traum von der Kanzlerschaft träumen. Wie hat er das gemacht?

Koch schaut zu Andrea Petkovic. „Ich spiele seit Kindertagen Tennis“, sagt er. „Aber im Moment sehr, sehr selten, obwohl ich direkt neben einem Tennisplatz wohne.“ „Er ist sehr straight so“, erklärt sie. „Immer rangehen.“

Wäre er Fußballprofi und nicht Tennisspieler, sagt Koch, und würde man seinen Spielcharakter von der Politik übertragen, dann wäre er ein Mittelfeldmann, der weite Wege nach vorne geht. Nach der Niederlage am 27. Januar hat er es anders gemacht. Er ist hinten geblieben.

Er befand sich schon im Auto mit seiner Frau. Sie waren auf dem Weg nach Hause. Er wusste, dass die Linke im Parlament sein würde und dass seine CDU zwölf Prozentpunkte verloren hatte. Aus. Aber dann kam das vorläufige Endergebnis: CDU dreieinhalbtausend Stimmen vor der SPD. Entronnen. So hat es angefangen.

Andere Politiker reagieren in der Niederlage mit spektakulären Aktionen. Sie verkünden den Rücktritt, blasen zum Gegenangriff oder verzapfen im Fernsehen wirres Zeug. Roland Koch sagte wenig. „Überstürze nichts“, hat Helmut Kohl ihm geraten. Die Fehler sollten die anderen machen. Er hat seine angegriffenen Stimmbänder kuriert und ist in Skiurlaub gefahren.

Der Winter ist vorbei. Er sitzt locker in seinem Sessel, die Beine übereinandergeschlagen, die Rechte lässt er über die Armlehne hängen. Er hört zu, spricht entspannt, man kann ihn unterbrechen. Er bilanziert handwerkliche Fehler im Wahlkampf. Er sei nicht klargekommen damit, dass die gegnerischen Parteien die Wähler mit Statistiken verwirrt hätten. „Da haben wir unsere Botschaft nicht mehr sauber herübergebracht.“ Dann hat er auch noch den Interviewsatz gesagt: Auf unter 14-Jährige, die von Kriminellen als Werkzeuge benutzt werden, müssten Elemente des Jugendstrafrechts angewandt werden. „Völlig korrekt, aber in diesem emotionalen Klima missbrauchsfähig. Daraus ist die absurde Behauptung gemacht worden, ich wollte Kinder in Knäste stecken.“

„Der Statistikdschungel“, „die Knästenummer“, so nennt er das nun. Heute lachen sie drüber, der Ministerpräsident und sein Regierungssprecher. Koch redet über diese Niederlage, als hätte sie vor langer Zeit stattgefunden. Die Möglichkeit, dass eine Mehrheit in seinem Land einen ausländerfeindlichen Wahlkampf nicht duldet, lässt er nicht an sich heran. War er nicht einfach skrupellos? Der Vorwurf bringt ihn überhaupt nicht in Rage. „Politiker haben die Verpflichtung, Dinge auf den Punkt zu bringen, auch was Integration betrifft. Die Verschwiegenheit führt doch dazu, dass angestaute Aggressionen größer werden“, sagt er. „Ich bin nicht skrupellos.“

Andrea Petkovic stützt das Kinn auf ihre Handfläche. Sie schaut mit unbewegtem Gesicht den Ministerpräsidenten an. Sie nimmt ihn Maß. So also funktioniert Politik.

Koch kann auf Risiko spielen, aber auch vorsichtig. Die hessische CDU tritt geschlossen auf wie kein anderer Landesverband. Machtkämpfe kommen praktisch nie auf die offene Bühne, keiner tanzt aus der Reihe. So ist das seit Jahrzehnten. Koch hat das straffe System nicht eingeführt, aber er hat es übernommen und gepflegt. In Wiesbaden sehen sich die Minister nicht nur dienstags in der Kabinettssitzung, sondern reden fast jeden Montag bis Mitternacht. Streit dringt nicht an die Außenwelt. Metz hat die Minister im Griff, und jeder CDU-Abgeordnete legt seine Pressemitteilungen der Fraktionspressestelle vor.

Bei der SPD ist es anders. Der rechte Flügel und der linke stümpern gegeneinander, Ypsilanti ärgert sich über Walter, von Berlin dribbelt Scheer los, mischt Beck mit, schimpft Steinbrück.

Vermutlich gibt es in Wiesbaden niemanden, der so die Augen über die SPD verdrehen kann wie Tarek Al-Wazir. Der Grünen-Chef hat erlebt, wie es ist, wenn man sich schon in einer rot-grünen Regierung wähnt, toleriert von der Linken, die dann aber zerbröselt, weil die SPD-Chefin ihre Abgeordneten nicht kennt. Jetzt sitzt er im Hof des Wiesbadener Landtags beim Mittagessen. Wenigstens ist die Situation für ihn nicht so schlecht. Wer im Parlament eine Mehrheit sucht, muss zu ihm kommen. Er hat sehr wohl registriert, dass Koch bei der ersten Sitzung so lange bei ihm stehen blieb, bis auch der letzte Fotograf den Händedruck gesehen hatte. Al-Wazir lächelt. Er glaubt nicht, dass Koch es ernst meint mit einer schwarz-gelb-grünen Koalition. „Er will sagen können: Ich habe alles versucht.“

Al-Wazirs Vater ist Jemenit und nach Kochs 1999er Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft fühlte er sich persönlich getroffen. Nicht von Koch, sondern davon, dass die Aktion auf Resonanz stieß bei den Hessen. Er macht sich keine Illusionen über Koch, aber er vermittelt nicht das Gefühl, dass er den CDU-Mann verachtet. „Er ist ein Schnellmerker“, sagt der Grüne. „Ihm fehlt das innere Stoppschild.“

Man muss dieses Bild eng sehen. Koch verletzt Grenzen, aber bedacht, er gerät nie in Raserei. Seine Kampagnen erzeugen Gefühle. Doch er löst sie nicht impulsiv aus, sondern berechnend. Wird er attackiert, gibt er nur aggressiv zurück, wenn das nicht schadet.

Er antwortet grinsend, wenn man ihn fragt, was er spät am Wahlabend getan hat, nach dem schockartigen Absturz, den schlingernden Hochrechnungen, nach der Nachricht, dass seine Partei doch vor der SPD liegt: „Ich bin ins Bett gegangen. Gehen Sie davon aus: Ich kann immer schlafen.“

Das ist das Entscheidende an Koch: seine Ruhe. Seine Kampagnen sind hitzig, er bleibt kühl. Er räumt Fehler ein und steckt Schläge weg. Dann baut er sein Spiel neu auf.

Er hat sich früh daran gewöhnt, attackiert zu werden. In seiner Heimatstadt Eschborn hat er mit 14 Jahren einen Ortsverband der Jungen Union gegründet. Sie waren die Minderheit, die meisten Jugendlichen waren links Anfang der Siebzigerjahre. Als er in Wiesbaden frisch im Landtag saß, haben ihn die Grünen als „Jungen im Matrosenanzug“ verspottet. Er lernte gegen Joschka Fischers Spott zu bestehen.

Nach dem Wahlabend ist Koch ins Bett gegangen. „Ich kann immer schlafen“ Will er noch mal antreten? „Was glauben Sie, warum ich das hier mache?“

Seine Vorbilder haben ihn stark gemacht. Sein Vater Karl-Heinz Koch, der Minister in Hessen war. Oder Kohl. Der hat ihn früh auf einem Parteitag ausgeguckt und später zum Erben erklärt.

Er ist Klassensprecher geworden und Kreisvorsitzender und Fraktionsvorsitzender und Landesvorsitzender. Er hat Tag und Nacht an seiner Karriere gearbeitet. Seine Anwaltskanzlei lief nebenbei. Aber man soll das bloß nicht falsch verstehen, da kann Roland Koch scharf werden, darauf kommt er ungefragt zu sprechen. „Außer Politik und Familie hat er nichts – das ist eine grobe Fehleinschätzung. Mein Leben definiert sich nicht aus der Frage, ob ich ein politisches Amt habe. Ich mache das hier gern, aber ich habe mein Leben nicht mit politischer Arbeit begonnen. Ich bin mir keineswegs sicher, ob ich’s mit politischer Arbeit beende.“

Er will nicht abhängig erscheinen. Nicht von Kreisvorsitzenden, nicht von Merkel, angeblich nicht einmal von der Politik. Die hessischen CDU-Politiker hätten ihn beschwörend angeschaut am Tag nach der Niederlage, sagt er. So ist es gut, nicht anders herum. Er will beschworen werden, dann macht er weiter. Koch würde nie in eine Abstimmung ziehen, ohne vorher durchzuzählen.

Politik und sonst nichts – Koch will auf keinen Fall dastehen als einer, der nur eine Option kennt. Er hat die Niederlage gerade deshalb überstanden, weil er flexibel ist. „So einen Spieler gibt’s nicht“, stellt Al-Wazir fest. „Er grätscht fies, und dann spielt er wieder einen genialen Pass.“

Nun spielt er vorsichtig in dieser Zwischenzeit, wo der politische Tod gerade an ihm vorübergegangen ist und der Aufstieg schon wieder winkt. Er genießt das Umfragedesaster der SPD. Steckt es weg, wenn Rot-Rot-Grün die Studiengebühren kippen will. Er ruft staatsmännisch, dass Hessen nicht stillstehen dürfe. Er beruft eine Nachhaltigkeitskonferenz ein, zu der sogar ein Linke-Vertreter kommen darf. Der Hessentag wird gute Bilder bringen, und irgendwann wird es zu Neuwahlen kommen. Vielleicht in einem Jahr, wenn Europawahlen sind, vielleicht früher.

Will er wirklich noch mal antreten? Nach der Pleite? „Ja, was glauben Sie, warum ich das alles hier mache? Meine Partei erwartet von mir, dass ich sie in eine neue Regierung oder einen neuen Wahlkampf führe, wann auch immer. Die CDU traut es mir zu und ich trau es mir auch zu.“

Der Termin ist rum. Andrea Petkovic reicht Koch die Hand. Ihr Praktikum endet. „Vielen Dank.“ – „Wie sehr sind Sie jetzt zurück durch die Verletzungspause?“, fragt er. „100 Plätze und ich werde noch mal 100 fallen“, sagt sie. „Das holen Sie schnell wieder auf“, sagt Metz. „Wenn das bei uns so leicht wäre“, sagt Koch.