: Zwangsheirat erstaunlich häufig
Das geht aus einer Studie der Lawaetz-Stiftung hervor. Hamburger Beratungsstellen nannten 210 Fälle im Jahr 2005. Religion spielt selten eine Rolle. Situation von Importbräuten am schwierigsten
VON KAIJA KUTTER
Nach dem Mord an Morsal O. gerät das Thema Zwangsheirat in den Fokus der Öffentlichkeit. Es ist gar nicht selten, dass junge Frauen oder auch Männer gegen ihren Willen von ihren Familien verheiratet werden. Das geht aus der Studie „Zwangsheirat in Hamburg“ hervor, die der frühere CDU-Senat 2006 im Rahmen seines „Handlungskonzeptes zur Integration“ bei der Johann Daniel Lawaetz-Stiftung in Auftrag gab und die bisher kaum öffentlich Beachtung fand.
Für die Untersuchung wurden einschlägige Beratungsstellen und Jugendämter nach ihren Fällen aus 2005 befragt. Ergebnis: Es gab allein in diesem einen Jahr 210 Beratungsfälle zu Zwangsheirat. In 169 Fällen kamen die Betroffenen selber, in den übrigen Freundinnen, Schwestern, Verwandte oder Lehrer.
Die Verfasser Thomas Mirbach, Simone Müller und Katrin Triebl weisen darauf hin, dass ihre Studie nicht repräsentativ sei, da nur eine Auswahl von Beratungsstellen angeschrieben wurde und nicht Migranten direkt befragt wurden. Eine Erhebung aus Berlin geht aber ebenfalls von rund 200 bis 300 Fällen aus. Lesenwert ist die Studie, weil sie einen Einblick in Hintergründe und Motive bietet und das bislang nur unter einem Schlagwort diskutierte Phänomen greifbarer macht (als PDF verfügbar unter www.lawaetz.de).
Von „Zwangsheirat“ sprechen die Autoren, wenn Braut oder Bräutigam durch Androhung von physischer und psychischer Gewalt zur Heirat gezwungen werden. Davon zu unterscheiden sei eine „arrangierte Ehe“, bei der beide Partner ablehnen können. Die Autoren warnen davor, beides gleichzusetzen, weil damit „kulturelle Praktiken automatisch kriminalisiert“ würden.
Hier ein paar Fakten: Am häufigsten betreiben die Eltern die Zwangsheirat. Als Druckmittel wird meistens psychische Gewalt eingesetzt. Aber auch körperliche Gewalt sowie Freiheitseinschränkungen wie Einsperren in die Wohnung oder Entzug des Passes kommen vor.
An häufigsten (53 Fälle) fand die Zwangsheirat unter Migranten in Deutschland statt. Es gab aber auch 42 Fälle so genannter „Ferienverheiratungen“, in denen jungen Frauen, oft noch Schülerinnen, im Ausland verheiratet wurden.
In 45 Fällen wurde eine junge Frau aus einem anderen Land geholt und mit einem in Deutschland lebenden Migranten verheiratet. Die Behörde spricht von „Importbräuten“. Ihre Lage gilt als am schwierigsten, da sie oft wie Hausangestellte behandelt werden und kein Deutsch sprechen. In 39 Fällen wurde ein im Ausland lebender Mann mit einer in Deutschland lebenden Migrantin verheiratet.
Auffällig ist, dass alle betroffenen einen sehr niedrigen Bildungsstand haben. Zwar konnten 64 Prozent Deutsch lesen und schreiben, aber nur 35 Prozent hatten einen in Deutschland anerkannten Schulabschluss und nur elf Prozent einen Beruf. Und, sofern bekannt, hatten alle kein Einkommen, von dem sie allein leben könnten.
Die Gutachter vermuten, dass sich die Perspektiven für MigrantInnen aus ländlichen Regionen in Deutschland verschlechtert haben – und für ihre Kinder ebenso. „Nun geraten die Eltern – salopp formuliert – unter Druck“. Die Kinder zu verheiraten, auch gegen ihren Willen, sei eine Möglichkeit, sie wieder in das soziale Gefüge einzubinden.
Opfer von Zwangsverheiratung sind ebenso junge Männer, die fünf Prozent der obigen Fälle ausmachen. Hätten Söhne keinen Abschluss, würden sie delinquent oder nähmen sie Drogen, versuchten Eltern, ihnen durch Heirat mit einem Mädchen aus dem Herkunftsland eine Struktur und eine Aufgabe zu geben, sie zu „retten“.
Die Familien der Ratsuchenden kamen am häufigsten aus der Türkei (54 Prozent), aus Afghanistan (16 Prozent) oder Kurdistan (9 Prozent). Die restlichen Fälle kamen aus Südasien, Afrika, dem ehemaligen Jugoslawien oder dem Nahen Osten. Mehr als 80 Prozent waren muslimischen Glaubens. Hindus waren mit fünf Prozent vertreten, Christen mit einem Prozent.
Angesicht des hohen Anteils an Muslimen ist es interessant, dass Religion bei der Zwangsheirat eine geringe Rolle spielt und nur in 5,6 Prozent der Fälle als Motiv genannt wird. In fast jedem zweiten Fall (44 Prozent) ging es um die Ehre der Familie, um die Kontrolle über die Tochter oder die Wahrung der Tradition. In 13 Prozent der Fälle ging es darum, familiären Pflichten nachzukommen, in ebenso viele Fällen um das Erlangen eines Aufenthaltsstatus und in jeden vierten Fall (24,1 Prozent) darum, „die Töchter versorgt zu wissen“.