: „Manche sind drei Mal hier“
In Bremen gibt es immer mehr Inobhutnahmen von schutzbedürftigen Kindern: Das Hermann-Hildebrand-Hauses, Bremens einzige entsprechende Notaufnahme, ist permanent überbelegt
von Eiken Bruhn
Kinder, die aus ihren Familien genommen werden, bleiben derzeit zu lange in Heimen oder so genannten Übergangs-Pflegefamilien. Weil die Fallmanager im Jugendamt immer neu eintreffende Notfälle zuerst versorgen müssten, sei kaum Zeit dafür, sich um den Weiterverbleib der ehemaligen Notfälle zu kümmern, sagte am Freitag die Sprecherin der Sozialsenatorin, Petra Kodré. Eigentlich sollen die in staatliche Obhut genommenen Kinder – überwiegend zwischen drei und zwölf Jahren – nach spätestens drei Monaten entweder in ihre Familie zurückkehren oder in eine Einrichtung beziehungsweise Pflegefamilie kommen, wo sie länger bleiben.
Stattdessen bleiben sie ein halbes bis ein dreiviertel Jahr in der ersten Not-Aufnahmestelle, bestätigt Joachim Pape, der Leiter des Hermann-Hildebrand-Hauses, der einzigen Notaufnahme für Kinder in Bremen. „Das ist eindeutig zu lang“, sagt Pape, „die befinden sich in einer unsicheren Lebenssituation und wissen nicht, wie es mit ihnen weitergeht“. Sie würden sehen, wie andere Kinder wieder zurück in ihre Familie gehen. „Dann fragen die nach: ‚Komm ich auch wieder nach Hause‘, und wir können ihnen das nicht sagen“.
Nach seiner Erfahrung wird bei etwas über der Hälfte der Fälle versucht, die Kinder wieder in ihre Herkunftsfamilien zu integrieren. Das Prinzip, eine dauerhafte Herausnahme zu vermeiden, sei zwar richtig, sagt Pape, aber es funktioniere nicht immer. „Manche Kinder haben wir auch zwei- oder dreimal hier.“
Der „Rückstau“ bei der Fallbearbeitung birgt ein weiteres Problem: Das Haus ist dauerhaft voll belegt, für neu in Obhut genommene Kinder ist kein Platz mehr. „Wir hatten hier die Situation, dass das Jugendamt anrief und ich sagen musste, wir können beim besten Willen niemand mehr aufnehmen“, schildert Pape den Ernst der Lage. Offiziell hat er 24 Plätze, am Freitagnachmittag waren 27 Kinder im Heim, manchmal seien es 35 oder auch mal 43, so Pape.
Der Eindruck, es würden seit Kevin mehr Kinder in Obhut genommen als früher, täusche aber, sagt der Heimleiter. „Wir haben im Grunde hier genauso viele Kinder wie in den 90er Jahren, die Situation hat sich eher normalisiert.“ Weniger Kinder habe es in den 2000er Jahren nur deswegen gegeben, weil die Amtsleitung die teuren Heimaufenthalte reduziert hatte. Die Jugendamtsmitarbeiter waren angewiesen worden, an den stationären Maßnahmen zu sparen, parallel dazu wurden die Heimplätze reduziert – von ursprünglich 34 auf 24, rechnet Pape nach. Erst nachdem mit dem Tod von Kevin im Oktober 2006 das gesamte Jugendhilfesystem überprüft worden war, änderte sich das wieder.
Eine Entlastung will das Sozialressort jetzt mit 14 weiteren Plätzen schaffen, die bis Ende 2008 bei einem anderen Notunterkunfts-Träger – der bisher nur Jugendliche aufnimmt – eingerichtet werden sollen. Außerdem solle eine Gruppe von SozialamtsmitarbeiterInnen die aufgelaufenen Fälle abarbeiten, so die Soziales-Sprecherin Kodré. Ungelöst ist dabei ein finanzielles Problem: Gerechnet hatte die Sozialbehörde mit durchschnittlich 100 in Obhut genommenen Kindern, es sind 140 bis 160.
Er hoffe sehr, dass sich die Lage in absehbarer Zeit wieder entspanne, sagte der Heimleiter Pape, glaube aber, dass für eine langfristige Lösung noch mehr Personal eingestellt werden müsste.
Kein Problem gibt es offenbar mit der Weitervermittlung in Kinderheime beziehungsweise Pflegefamilien. In fast allen Fällen würden Pflegeeltern gefunden werden, sagte die Geschäftsführerin der Vermittlungsstelle „Pflegekinder in Bremen“ (PiB), Monika Krumbholz. „Wir suchen aber immer händeringend nach Menschen, die sich das zutrauen.“ Der Fall Kevin habe nicht dazu geführt, dass sich mehr potenzielle Pflegeeltern bei PiB melden würden, so Krumbholz. Vermutlich sei den meisten bewusst, wie schwierig das Leben mit einem Pflegekind sein könne. Derzeit leben in Bremen 517 Kinder in Pflegefamilien.
Dass seit Kevin Kinder zu schnell aus ihren Familien herausgenommen würden, wie es der Präsident des deutschen Kinderschutzbundes behauptet hatte, halten die Bremer Experten für abwegig. Sollten tatsächlich etwa alle Kinder von Drogenabhängigen in Obhut genommen werden, dann müsste sein Heim noch voller sein, so Pape.
Gestiegen sind neben den Inobhutnahmen auch die ambulanten Maßnahmen, also alles, was Familien dabei unterstützen soll, zusammenzubleiben. 80 Prozent mehr dieser Maßnahmen würden derzeit angeordnet, so die Soziales-Sprecherin Kodré. Eine Überprüfung, ob die Angebote erfolgreich sind, gebe es allerdings nicht – da stünde Bremen nicht besser da als der Rest der Republik.