: Schutz in der Einwanderergesellschaft
Spezialisierte Beratungsstellen vermuten, dass Kinder mit Migrationshintergrund stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Um das zu klären, soll die Politik eine Studie anschieben. Hamburgs Sozialbehörde setzt vorerst auf Prävention
Im Dschungel der Begriffe, die sexuelle Übergriffe ausdrücken – so zum Beispiel sexuelle Ausbeutung, sexuelle Belästigung oder sexuelle Misshandlung – tauchen auch die Ausdrücke „sexuelle Gewalt“ und „sexualisierte Gewalt“ auf. Eindeutige Definitionen gibt es nicht, auch keine gesetzlichen, die eine Orientierung geben: Das Strafgesetzbuch etwa definiert nicht den sexuellen Missbrauch an sich, sondern nur das darauf anzuwendende Strafmaß. Regina Schreglmann von der Rostocker Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt sagt dazu: „Im Prinzip unterscheidet sich die sexuelle Gewalt kaum von der sexualisierten. Es kommt darauf an, welchen Ausdruck man sprachlich bevorzugt.“ Allerdings stehe bei der „sexuellen Gewalt“ vor allem der sexuelle Trieb im Mittelpunkt, bei der „sexualisierten Gewalt“ die Gewalt. MKG
VON KAIJA KUTTER
„Überlegst du immer noch oder schützt du schon?“ Unter diesem Titel haben am Montag mehrere Hamburger Beratungsstellen zu einer Fachtagung eingeladen – das Thema: Wie muss Präventionsarbeit vor sexualisierter Gewalt in einer Gesellschaft aussehen, in der fast jeder zweite Schulanfänger Migrationshintergrund hat? Der Saal war voll, das Thema hat wenige Wochen nach dem Mord an der 16-jährigen Morsal O. offensichtlich Konjunktur. Die Tat habe ein „Schlaglicht auf die Leiden von jungen Mädchen in stark patriarchal geprägten Familien geworfen“, sagte Hamburgs Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) zur Begrüßung.
Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen sei ohnehin ein „Tabuthema“, so Wersich. Im Zusammenhang mit der Zuwanderungsgesellschaft aber sei viel zu wenig darüber bekannt. Der Senator nannte ein paar allgemeine Zahlen: 2007 gab es in Hamburg laut offizieller Polizeistatistik 675 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und 368 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern. Nicht selten seien Jugendliche die Täter: Hier gebe es je 1.000 Einwohner doppelt so viele Täter wie unter Erwachsenen.
Was hat das mit Migration zu tun? Die Veranstalterinnen – die Beratungsstellen „Allerleihrauh“, „Zündfunke“ und „Dunkelziffer“ haben Thesen aufgestellt, wonach es für Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien ein „erhöhtes Risiko“ gibt, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. „Isolation begünstigt sexuellen Missbrauch“, erklärte Christa Paul von Allerleihrauh e. V. Hinzu komme, „dass alltägliche Rassismuserfahrungen die Entwicklung eines starken Selbstbewusstseins verhindern, dass vor Gewalt schützen kann“, so Christina Okeke vom Verein Dunkelziffer.
Die Politologin Latifa Kühn wies in ihrem Eröffnungsreferat auf das Zusammenspiel von Autorität, Respekt, Gehorsam und Schweigsamkeit in den zuweilen stark patriarchal geprägten Großfamilien hin; neben Mädchen könnten hier auch Jungen gefährdet sein. Der in der Präventionsarbeit übliche Satz „Kinder dürfen Nein sagen“, sei nicht leicht in migrantische Kollektivgesellschaften zu übertragen.
Vom Senat fordern die Beraterinnen, eine Studie in Auftrag zu geben, die diese Thesen entweder „bestätigt oder widerlegt“, sagte Okeke. Hamburgs Sozialbehörde winkt ab: „Es wird nicht jeder Vorfall zur Anzeige gebracht“, sagt Sprecherin Jasmin Eisenhut. „So eine Studie könnte den Zweck, das Dunkelfeld zu erhellen, nicht erfüllen.“
Bleibt jenseits der Zahlen die Frage, wie die Prävention in Schulen und Kindertagesstätten so gestaltet werden kann, dass sie auch Menschen aus anderen Kulturen erreicht – denn in den Beratungsstellen sind diese offenbar unterrepräsentiert. Immerhin handeln Bilderbücher und andere Materialien inzwischen nicht mehr nur von weißen, deutschen Kindern. Die Beratungsstellen selbst wünschen sich mehr KollegInnen mit Migrationshintergrund. Auch das scheint leichter gesagt als getan. Allerleihrauh habe kürzlich eine Stelle an eine Frau mit Migrationshintergrund vergeben wollen, sagte Christa Paul: „Wir haben die Bewerbungen nicht bekommen.“