: berliner szenen Kippe fällt
Angetäuschte Nacht
Der Herbst war in den Plänterwald gekommen. Die Schriftstellerin Julia Franck und der Musiker Jens Friebe stapften plaudernd durch die Ruinen der Rummelbuden und dann und wann fiel eine rostlöchrige Karussellkabine wie eine reife Feige vom Himmel. Der Musiker erzählte der Schriftstellerin die Geschichte von Norbert Witte, ehemaliger Geschäftsführer des Vergnügungsparks und Enkel des Hochstaplers Otto Witte, dem „König von Albanien“. Witte hatte sich nach dem Bankrott als echter Witte erwiesen und mit dem „Fliegenden Teppich“ und weiteren Fahrgeschäften, verpackt in 20 Container, nach Lima aus dem Staub gemacht. Auf der Rückreise war er mit 167 Kilo Kokain im Mast des fliegenden Teppichs erwischt worden und hatte sich direkt nach Moabit begeben müssen. So ging die Geschichte, die Friebe erzählte. „Durch die Nacht mit …“ verhieß der Titel der Sendung, in der das geschah. Doch es war am Tag und Berlin sah sehr alt aus und okzidental, wie sie so gingen im Plänterwald. Es blieb also Zeit, die Schlucke zu zählen, die Friebe aus der Sekt- oder Bierpulle nahm, und für Assoziationen.
Ich zum Beispiel dachte an gestern, an den Alten vom Bahnhof, dem mitten im Satz die Kippe aus den gelben Fingern gefallen war. Und ich hatte gedacht, versagt jetzt die Muskelkraft oder der Wille, das zu halten. Ich hatte mir vorgestellt, wie das Gefühl dafür auf einmal weg ist, weil vielleicht die Notwendigkeit nicht mehr einleuchtet. Etwas zu halten, ist ja auch Arbeit. Oder weil nach 40 Jahren Kette die Kippe dein elfter Finger ist. Einen Finger muss man nicht halten. Ich selbst habe einmal in mein Weinglas geascht und es dann in einem Zug geleert. Da war es aber wirklich Nacht gewesen in Berlin.
SASCHA JOSUWEIT